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„Die Ostjuden haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof. Viele werden reich. Viele werden bedeutend. Viele werden schöpferisch in fremder Kultur. Viele verlieren sich und die Welt. Viele bleiben im Getto und erst ihre Kinder werden es verlassen. Die meisten geben dem Westen soviel, wie er ihnen nimmt. Manche geben dem Westen mindestens soviel, wieviel er ihnen nimmt. Das Recht, im Westen zu leben, haben jedenfalls alle, die sich opfern indem sie ihn aufsuchen.“ (Roth 2014: 7f)
Der Essay „Juden auf Wanderschaft“, aus welchem das einführende Zitat des in Ostgalizien geborenen Joseph Roth stammt, beschreibt das Gefühl von Zerrissenheit und Verlorenheit von Jüdinnen und Juden aus dem Osten Europas. Diejenigen, die sich auf den Weg nach Berlin machten, kamen in der Regel ursprünglich nicht um zu bleiben. Etliche jüdische Migrant/innen besaßen Durchreisevisa und sahen die Stadt als Durchgangsstation auf ihrem Weg weiter nach Westen. Viele jedoch strandeten hier, vor allem in der Gegend des ehemaligen Scheunenviertels, zwischen dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, damals Bülowplatz, der Alten Schönhauser Straße, und in Charlottenburg, das so die Bezeichnung Charlottengrad erhielt. Im Jahr 1925 lebten 41.465 osteuropäische Jüdinnen und Juden in Berlin (Heid 2012). Die Bezeichnung „Ostjuden“ wurde durch einen ihrer Fürsprecher, den Schriftsteller Nathan Birnbaum, geprägt und später popularisiert. In diesem Zuge stellte er nicht nur eine Verkürzung dar, die aus einer Vielfalt von religiösen, nicht-religiösen, kommunistisch, anarchistisch oder konservativ gesinnten Jüdinnen und Juden mit höchst unterschiedlichen Berufen eine homogene Gruppe konstruiert. Sondern er verweist darüber hinaus auf zwei starke Ressentiments: auf einen Antislawismus gegenüber „dem Osten“ und nicht zuletzt auf den Antisemitismus.
Gekommen waren die osteuropäischen Migrant/innen seit den 1880er Jahren und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie waren auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen, Zwangsrekrutierungen, russischer Sondergesetzgebung, Bürgerkrieg, bitterer Armut und Perspektivlosigkeit. Während des Ersten Weltkriegs wurde die jüdische Bevölkerung im besetzten Russisch-Polen mit der Aussicht auf Arbeit in der deutschen Rüstungsindustrie und der Aussicht auf Familiennachzug umworben; 30.000 Menschen folgten diesem Ruf nach Deutschland. Infolge des Zerfalls der Vielvölkerstaaten und der Zunahme von Pogromen nahm die Migration nach Westen und damit nach Berlin, das geografisch günstig lag, bis 1925 zu. Dennoch waren von den 175.000 Jüdinnen und Juden, die 1925 in Berlin lebten, gerade mal rund ein Viertel Ausländer oder Staatenlose, da viele Menschen aufgrund von Antisemitismus und Weiterreisemöglichkeiten, aber auch wegen ihres unsicheren Aufenthaltsstatus die Stadt wieder verließen oder verlassen mussten.
Für viele wurde die damalige Grenadierstraße, heute Almstadtstraße zum Anlaufpunkt. In der ärmlichen Gegend mit ihren engen Straßen und Gassen war ein reges jüdisches Leben entstanden. Für die Wahl des Wohnortes in Berlin spielten für die jüdischen Migrant/innen zwei Aspekte eine wichtige Rolle: „rechtliche Rahmenbedingungen – wie die Ende des 19. Jahrhunderts im Berliner Vorort Charlottenburg weniger restriktiv gehandhabte Zuzugspolitik gegenüber russischen Juden – und pragmatische Erwägungen wie die Nähe zu bestehenden jüdischen Einrichtungen“ (Saß 2012: 62). In Charlottenburg fanden vor allem städtische Intellektuelle, die vor der bolschewistischen Revolution geflohen waren, eine vorläufige Heimat. Mit wahlweise romantisierenden oder antisemitisch-stereotypisierenden Sichtweisen hatte das Leben im Scheunenviertel wenig gemein. Die Gegend war mit 1.477 Personen je Hektar das am dichtesten besiedelte Stadtviertel Berlins (Saß 2012: 63). Sie war eines der ärmsten Quartiere der Stadt. Die Enge in den Wohnungen sorgte dafür, dass sich das soziale Leben auf die Straßen verlagerte. Ein Teil der Eingewanderten versuchte seine angestammte Lebensweise beizubehalten. Während die deutsch-jüdische Orthodoxie sich durch die Einwanderung vieler frommer Jüdinnen und Juden eine Verstärkung der Jüdischkeit versprach, empfanden die in der Mehrzahl weitgehend assimilierten deutschen Juden die Zugewanderten als eine Infragestellung oder gar Bedrohung ihrer Existenz. „Die Ostjuden galten als roh und schmutzig, laut roh, unsittlich, kulturell rückständig – Angehörige des Ghettos, das Gegenbild des ‚modernen’, emanzipierten und akkulturierten Juden. Die Antisemiten verknüpften den Begriff mit der Gesamtheit der deutschen Juden (...)“ (Helas 2000). In Albert Einstein fanden die osteuropäisch-jüdischen Migrant/innen einen wichtigen Fürsprecher. Obwohl viele jüdischen Migrant/innen ihre Traditionen beiseite warfen, wurden die „Ostjuden“ zu einem beachtenswerten Faktor jüdischen Lebens in Berlin. In der Wirtschaftskrise wurde das Scheunenviertel und seine Bewohner/innen eine Projektionsfläche für die Ängste vor sozialem Abstieg und Furcht vor dem ‚Anderen’, das die Zugewanderten repräsentierten. So fand im Jahr 1923 im Scheunenviertel ein Pogrom, statt, das seinen Ausgangspunkt in einer Hungerrevolte hatte. Dabei wurden Menschen, die jüdisch waren oder dafür gehalten wurden, geschlagen und beraubt, sowie Wohnungen und Geschäfte geplündert. „Die Juden wehrten sich, es gab mehrere Tote und später zwei Prozesse. Der Fleischergeselle Silberberg aus der Hirtenstraße, der den Angreifern mit einem großen Beil entgegengetreten war, um Menschen, die sich in den Laden geflüchtet hatten, zu schützen, wurde angeklagt. Die Polizei hatte zuerst weggeschaut und dann vor allem Juden zur Polizeiinspektion geschleppt. Vor Gericht mussten sich zwei Polizisten für ihre üblen Sprüche auf dem Hof der Inspektion verantworten, das waren der Polizist Domei und Polizei-Hauptmann Dubbe. Die 1925 durchgeführten Prozesse gegen diese beiden Polizisten und einige ihrer Kollegen verliefen im Sande. Auch der Fleischer Silberberg wurde nicht bestraft.“ (Helas 2000) Trotz antisemitischer Übergriffe waren Polizeirazzien die größte Bedrohung für die vielen Jüdinnen und Juden, die häufig nur über eine Duldung und mithin einen prekären Aufenthaltsstatus verfügten.
Heute erinnert wenig an die osteuropäisch-jüdische Präsenz, obwohl es eine intensive Forschung dazu gibt. Die breitere Öffentlichkeit weiß wenig über osteuropäisch-jüdische Dichter und Schriftsteller wie Moshe Kulbak oder David Bergelson, die Berlin in Richtung Sowjetunion wieder verließen - letzterer nachdem die Nationalsozialisten 1933 seine Wohnung durchsuchten - und dort letztlich ermordet wurden (Klingenstein 2011). Keine Hinweistafel weist auf die 19 Betstuben in der damaligen Grenadierstraße hin. Auch an das Krakauer Café und die koschere Konditorei der Familie Kempler in der heutigen Almstadtstraße 15 erinnert, wie an viele andere Orte, nur eine Webseite des Jüdischen Museums Berlin. Die aus Galizien stammende Familie Kempler wanderte schließlich 1933 angesichts des zunehmenden Antisemitismus nach Palästina aus. Ähnlich sieht es im Berliner Westen und dem Bezirk Charlottenburg aus. Zwar ist das Romanische Café in einem Hotelneubau neu eröffnet, doch auch hier fehlt ein von außen sichtbarer Hinweis auf seine Geschichte als Künstlertreffpunkt, der sich als „’Industriegebiet der Intelligenz’ (...) stadträumlich mit dem ‚Charlottengrad’ der russischen Revolutionsflüchtlinge“ überschnitt (Bienert 2012: 82). Die osteuropäisch-jüdische Präsenz in Berlin endete mit dem Nationalsozialismus. Im Rahmen der sogenannten Polenaktion wurden zehntausende osteuropäische Jüdinnen und Juden in das Niemandsland zwischen Polen und Deutschland abgeschoben. Die dort herrschenden menschenunwürdigen Zustände und das Schicksal seiner Familie veranlasste den jungen Herschel Grynszpan am 7. November 1938 zu einem Attentat auf den deutschen Diplomaten von Rath, welches den Nationalsozialisten einen Vorwand für die Inszenierung der nachfolgenden Novemberpogrome lieferte.
Michael Bienert: Nomadenstadt und Menschenwerkstatt. Das literarische Berlin der Weimarer Republik, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.): Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren, Göttingen, 2012.
Ludger Heid: Das Ostjudenbild in Deutschland, in: Julius H. Schoeps: Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh 2000.
Ludger Heid: Berliner Luft. Ostjuden in der deutschen Hauptstadt der Weimarer Jahre, in: Jüdische Allgemeine 26. 07.2012 http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/13589 (zuletzt eingesehen 26. 02. 2015).
Horst Helas: „Ein Ghetto mit offenen Toren“, Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000 http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt00/0006prof.htm (zuletzt eingesehen 26. 02. 2015).
Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Biografien Orte Begegnungen, Berlin 2001.
Jüdisches Museum Berlin: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren http://www.jmberlin.de/berlin-transit/orte/ (zuletzt eingesehen 27. 02. 2015).
Susanne Klingenstein: Erste Anlaufstelle Grenadierstraße, FAZ online, 02.08 2011 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/erste-anlaufstelle-grenadierstrasse-11106083.html (zuletzt eingesehen 26. 02. 2015).
Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft, Wien 2014.
Anne-Christin Saß: Das Scheunenviertel. Zur Urbanität eines Stadtquartiers, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.): Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren, Göttingen, 2012.