Wenn sich der Holocaust nach Hayden White nicht etwa der Repräsentierbarkeit entzieht, sondern es auf die Wahl geeigneter darstellerischer Mittel ankommt, warum sollte dann nicht auch das Theater als eines dieser Mittel in Frage kommen? Oder steht doch vielmehr zu befürchten, dass diese Darstellungsform viel eher zur Trivialisierung des Geschehens neigt, weil die Logik des Mediums ästhetischen Anspruch und unterhaltenden Charakter geradezu vorgibt? Kann eine theatralische Erzählung vom Holocaust seinem historischen Gegenstand im Sinne historisch-politischer Bildungsarbeit „gerecht“ werden? Wie sehen praktische theaterpädagogische Umsetzungen überhaupt aus?
Die Tagung „Geschichte und Geschichten auf der Bühne. Möglichkeiten und Grenzen von kultureller und historischer Bildung“ der Bundeszentrale für politische Bildung wandte sich im Jahr 2012 genau diesen Fragestellungen zu. Veranstalter/innen und teilnehmende politische Bildner/innen, Gedenkstättenmitarbeiter/innen, Historiker/innen, Theaterschaffende und Theaterpädagog/innen wollten vor allem die Möglichkeiten und Grenzen des biographischen Theaters ausloten. Das biographische Theater ist ein Spieler/innen- und lebensweltorientierter Ansatz. Er eignet sich gerade für nicht-professionelle Darsteller/innen, da persönliche Erfahrungen, Meinungen und Werte zentral miteingebracht werden sollen. Gerade das biographische Theaterspiel bietet also durch seinen Einbezug von Emotionen und Bewegung die Möglichkeit NS-Geschichte „lebendiger“ zu vermitteln und vor allem Jugendlichen den Charakter von Geschichte als Konstruktion und Fiktion im Verhältnis zu Faktizität näher zu bringen. Fiktionale Erzählungen bieten laut Daniel Fulda den Erzählenden und Zuhörenden zunächst auch die Möglichkeit des größeren Abstands, schaffen erweiterte Sinn- und Erklärungsangebote und vermögen potenziell neue Themen zu erschließen. Historisch-politische Bildung darf sich jedoch niemals im nachspielenden Reenactment gefallen und genügen. Sinnvoll erscheint es daher das biografische durch das dokumentarische Theater mit authentischen historischen oder aktuellen Dokumenten zu ergänzen, um der möglichen Illusion der identifizierenden In-eins-Setzung der Erfahrung sowie der emotionalen Überwältigung der Zuschauer/Innen zu begegnen. Wie der Workshop "Biografisches Theater – Anita Lasker-Wallfisch“ versuchte dieses Spannungsverhältnis auszuhalten und umzusetzen, lässt sich in einem Interview mit den beiden Spielleiter/innen nachlesen. Die Cellistin, Bergen-Belsen- und Auschwitz-Überlebende Lasker-Wallfisch war während der Aufführung der 15 Jugendlichen anwesend.
Auf der Website der BpB findet sich daneben eine nahezu 20-minütige Video-Collage, mit der Eindrücke von der Aufführung als auch die Emotionen, Bedenken aber auch Erkenntnisgewinne der Teilnehmenden des Workshops transportiert werden. Auf der Website finden sich daneben weitere spannende Videodarstellungen von theatralischen Projekten zur Vermittlung der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung. Die meist fünfminütigen Videos vermitteln dabei Idee, Thema sowie pädagogische Überlegungen zum Projekt und fangen Stimmen der Teilnehmenden ein. Beispielhaft seien hier genannt:
Lebensgeschichten von schwarzen Menschen und Migrant/innen im Nationalsozialismus erzählt das Projekt „Vergessene Biographien“. Neben der Website, die beispielhafte, marginalisierte Schicksale umfasst, entstand eine Ausstellung sowie ein Theaterstück.
„Kinder des Holocaust“ macht Interviewprotokolle überlebender jüdischer Kinder und Jugendlicher aus den Jahren 1944 bis 1948 zum Thema. Theaterpädagogisch ergänzt wird die Aufführung durch einen Materialienkoffer.
Die szenische Lesung aus historischen Originaldokumenten „Im Lager hat man auch mich zum Verbrecher gemacht“ und der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ thematisiert den Umgang der deutschen Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen und die dabei entstehenden Zumutungen für die Opfer.
Dieser szenischen Lesung ähnlich, sind auch die Aufführungen des Historikerlabors, welches beispielsweise ein fiktives Symposium „Zur Endlösung der Zigeunerfrage“ zeigt. Matthias Neukirch recherchiert als Enkel von „Hans Schleif“ – Architekt und Archäologe sowie ranghohes SS-Mitglied – die Biografie seines Großvaters. Das Stück um den mit sich selbst hadernden, streitenden, um Fassung und Deutung bemühten Spurensucher, vermag das Publikum zum eigenen intergenerationellen und intrafamiliären Dialog zum Nationalsozialismus anzuregen.
Das Medium des Theaters eignet sich wie angerissen darüber hinaus natürlich auch für die je nach Aufführung verstörende, lebensweltliche, produktiv-irritierende oder trivialisierende Thematisierung anderer extremer Gewalterfahrungen. So nimmt das Berliner Theater „Unterm Dach“ das Stück „Annes Schweigen“ Anfang April wieder auf. Es bietet einen spannenden Anlass Verdrängung und Identität der Nachgeborenen, ihren Umgang mit dem Genozid an den Armeniern gegen und mit dem intergenerationellen, familiären Umgangmechanismen mit der NS-Vergangenheit zu diskutieren.
Weiterführende Literatur zum Themenfeld Theater und Politik für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit findet sich beispielsweise im Präsentationsordner mit Begleit-DVD „Theater probieren. Politik entdecken“.