Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Es ist eine alte, anscheinend oder manchmal auch nur scheinbar beendete Debatte, die hinter der Frage nach dem Erzählen des Holocaust aufscheint: Kann (und darf) man den Holocaust überhaupt erzählen? Oder muss nicht das Analysieren der Ereignisse, das historiographische Interpretieren das Ziel sein, um tatsächlich Aufklärung über das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu gewährleisten? Wir wissen heute: das eine ist ohne das andere nicht denkbar.
Aber das war nicht immer so: Es war das Auseinanderdriften von geschichtswissenschaftlicher Forschung und der sich seit den 1980ern immer stärker etablierenden „Kultur der Zeitzeugen“, das dazu führte, dass beide Arten, den Holocaust zu verstehen und zu deuten, zunächst diametral gegenübergestellt wurden. Lange Zeit galten die Erinnerungen der Opfer dem wissenschaftlichen Zugriff als deutlich unterlegen, ihr Quellenwert wurde niedrig angesetzt, da das Narrativ des Einzelnen stets durch die Bedeutung der Ereignisse für die eigene Biographie überformt sei und die menschliche Erinnerung sich immer wieder als sehr unzuverlässig erweise. Doch die Debatte blieb dabei glücklicherweise nicht stehen: Hayden Whites fundamentale Einsichten in die erzählerische Konstruktion geschichtswissenschaftlicher Werke (1973) lösten Diskussionen aus, die lange nachwirkten. Für den Diskurs über den Holocaust zeigte sich jene Zusammenkunft von Historikern als äußerst gewinnbringend, die auf Einladung von Saul Friedländer im Jahr 1990 unter dem Titel „Probing the Limits of Representation“ in Los Angeles stattfand. Die nahezu alle geisteswissenschaftlichen Fächer erfassende Beschäftigung mit der menschlichen Erinnerung – ihren Möglichkeiten, ihren Grenzen, ihrer Bedeutung – tat ein Übriges: Der schroffe Gegensatz verschwand und aus dem oder wurde ein sowohl als auch, vor allem auch in der Bildungsarbeit: Der Überlebende und sein Zeugnis dienten als „Verkleinerungsglas“ (Ido Abram) der großen analytischen Erzählung, der Zeugenbericht erst machte das millionenfache Morden fassbarer, das Einzelschicksal des Opfers ermöglichte bei seinen Zuhörern und Lesern Empathie. Diesen Narrativen war die eigentliche Unangemessenheit der eigenen Darstellung angesichts der schieren Dimension des Verbrechens oft schon eingeschrieben: Es entwickelte sich in der Zeugnisliteratur das, was wir – manch einer vielleicht sogar despektierlich – „Unsagbarkeitstopos“ nennen. Vor allem in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit zum Holocaust etablierte sich eine fruchtbare Koexistenz zwischen Zeugnis und historischer Analyse. Auch die Abhängigkeiten zwischen den geschichtswissenschaftlichen Interpretationen und den „subjektiven Erinnerungskonstruktionen“ der Opfer, wie sie etwa James E. Young eingängig beschrieb, gerieten immer stärker in den Blick und gehörten bald zu dem, was man in einem positiven Sinne „Erinnerungsroutine“ nennen kann.
Trotzdem gab es auch dabei eine Art Tabu, das von vielen Historikern und Zeitzeugen gleichermaßen und lange vertreten wurde: Die Fiktionalisierung des Holocaust, mithin seine „Literarisierung“ wurde weitgehend abgelehnt. Bestenfalls wurden Romane, Novellen, Dramen etc. als Teile eines sekundären Diskurses angesehen, der nur wenig zum Verständnis der tatsächlichen Ereignisse beitragen kann. Schlimmstenfalls wurden Fiktionalisierungen in die Nähe von Geschichtsfälschungen gerückt. Die literarische Simulation galt nicht wenigen angesichts der realen Ereignisse zumindest als geschmacklos. Dabei ist dieses Argument selbst ahistorisch, denn in nicht wenigen Fällen haben Eingesperrte schon in den Gettos, aber auch manche Häftlinge in den KZs (wenn dies überhaupt möglich war) ebenso die Fiktionalisierung der eigenen Erlebnisse gewählt, um sich über deren Bedeutung klar zu werden. Neben seinem Tagebuch und der Arbeit für das „Archiv des Ältesten der Juden von Litzmannstadt“ war es zum Beispiel für Oskar Rosenfeld selbstverständlich, das Leben und Sterben im Getto in Kurzgeschichten literarisch zu verdichten und dabei auch mit surrealistischen Mitteln zu arbeiten. Sie schienen ihm offenbar bestens geeignet, gerade auch die durch den allgegenwärtigen Hunger ausgelösten Halluzinationen zu bannen. Eine anderes Beispiel sind die zahllosen Gedichte, die bereits während der Ereignisse, aber auch danach zu Tausenden von Opfern verfasst wurden. Alleine die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau hat eine umfangreiche, zweibändige Anthologie herausgegeben.
Der weit verbreitete Widerstand gegen die Fiktionalisierungen und Literarisierungen des Holocaust verkennt darüber hinaus die elementare Kraft der Literatur: Der Mensch ist, wie Graham Swift es einmal gesagt hat, das „geschichtenerzählende Tier“. Wir sind geschichtenbedürftig, mithin auf Fiktion angewiesen, um als Menschen überhaupt existieren zu können. Die menschlichste Form des Erinnerns ist das literarische, fiktionalisierende Erzählen, die kreative Verwandlung von Geschichte in Geschichten. Deshalb ist es keine Frage, dass der Holocaust in dieser Weise auch von Dritten erzählt werden darf, ja sogar muss. Dies gilt umso mehr für eine Zeit, in der sich der Übergang von Zeitgeschichte zu Geschichte vollzieht: Wenn keine Zeitzeugen mehr leben und wenn wir dann nicht immer nur nachdrucken und -lesen wollen, was schon da ist und was sich unweigerlich auch von uns und unserer Lebenswelt entfernen wird, sind wir – auch! – auf die Aktualisierung durch literarische Interpretationen angewiesen. Andernfalls droht, dass das gesellschaftlich bedeutsame Sprechen und Nachdenken über den Holocaust, die Versuche, ihn zu erklären und dadurch ähnlich Strukturen zu verhindern, irgendwann aufhören wird.
Natürlich heißt das nicht, dass solche von Dritten verfassten fiktionalen Texte ohne Bezug auf das, was Wissenschaftler und Zeitzeugen geleistet und dokumentiert haben, funktionieren können. Auch werden wir bei der Arbeit mit Romanen, Dramen o.ä. gerade in der Bildungsarbeit nicht umhin kommen, uns zurückführen zu lassen zu den Texten der Historiker und der Überlebenden: Aber die adaptierten Texte können uns in Zukunft möglicherweise den Weg ebnen, uns noch intensiver mit der Ereignisgeschichte auseinanderzusetzen. Man mag sich das an einem populären und trotzdem oft gescholtenen Beispiel verdeutlichen: John Boynes „Junge im gestreiften Pyjama“ ist eine in vielfacher Hinsicht „falsche“ Geschichte über Auschwitz. Doch der Roman führt bereits jetzt zahllose Jugendliche an das Thema heran. Das Spiel mit Leerstellen, das Boynes Werk exzessiv betreibt, kann dabei nur mit Rückgriff auf die historischen Fakten und auf die Erzählungen der Opfer gelingen. Natürlich sind naive Lektüren nicht auszuschließen, aber das spricht nicht grundsätzlich dagegen, solche Romane in der Bildungsarbeit zu nutzen. Wenngleich sicher nicht jede Form der Literarisierung geeignet oder gut ist, aber gerade auch im produktiven Streit über einzelne Texte werden wir Erinnerungsarbeit leisten: Auch solche Debatten kommen schließlich nicht ohne den Bezug auf Zeugnisse und wissenschaftliche Werke, ohne das Bedenken des tatsächlich Geschehenen aus. Die schulische und außerschulische Auseinandersetzung mit dem Holocaust wird sich zwar zwangsläufig ohne die Zeitzeugen verändern, ohne deren Vermächtnis funktionieren aber wird sie nicht.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Fiktionale Literatur über den Holocaust soll und kann weder die Geschichtswissenschaft noch die Berichte der Überlebenden ersetzen, doch sie wird in Zukunft in der Bildungs- und Erinnerungsarbeit hoffentlich eine größere Rolle spielen. Je eher wir lernen, sie als Erkenntnismedium zu lesen und zu nutzen, desto gewinnbringender wird sie sein.