"Diskriminierung: Augen auf!" – das war der Aufruf der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ), dem wir mit unserem Projekt folgten und uns mit Ausgrenzung in Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzten. Dass wir dabei am meisten über uns selbst und unsere eigenen Sicht- und Handlungsweisen lernen würden, zeigte sich uns Projektleitenden sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bereits von der Vorbereitungsphase an.
20 Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren aus Wolgograd/ Russland und Berlin kamen in dem Austauschprojekt "4 Sprachen + 2 Länder = 1 Sendung" zusammen, um sich kennenzulernen und gemeinsam mit Fragen zu beschäftigen wie: Was ist Diskriminierung? Wie erleben wir Diskriminierung in unserem Alltag? Wie kann Teilhabe aller in einer Gesellschaft funktionieren? Was bedeutete Ausgrenzung im Nationalsozialismus? Und was hat das mit der heutigen Situation zu tun? Organisiert wurde das Projekt von "Sinneswandel – Förderung gehörloser und hörgeschädigter Menschen in Berlin gGmbH" in Kooperation mit drei Wolgograder Partnerverbänden: der Allgemeinbildenden Schule Nr. 92, der Internatsschule für gehörlose und hörgeschädigte Kinder Nr. 7 und dem gemeinnützigen Verein "Klub UNESCO-Würde des Kindes".
Während zweier Jugendbegegnungen wurden die beiden Städte erkundet, thematische Exkursionen unternommen, über verschiedene Aspekte von Diskriminierung diskutiert und der Umgang mit der Kamera geübt, um auch gleich mit der praktischen Arbeit beginnen zu können. Denn als Ergebnis sollte eine gemeinsam produzierte Fernsehsendung entstehen, in der sich die Beschäftigung der Jugendlichen mit dem Thema Diskriminierung in Form von Interviews, Reportagen, Spielfilmen und einer Talkshow kreativ manifestiert.
Insofern handelte es sich um ein bekanntes und erfahrungsgemäß gut realisierbares Jugendaustauschformat. Doch die Besonderheit und damit auch die besondere Herausforderung des Projektes lagen in der Zusammensetzung der Jugendlichen. Ein Teil der Teilnehmerinnen, Teilnehmer und Projektleitenden war taub oder stark hörgeschädigt und ein Teil hörend. Dies bedeutete, dass nicht nur das Herkunftsland der jeweils anderen Gruppe eine kulturell neue Erfahrung darstellte, sondern im Grunde kamen die Jugendlichen und die Projektmitarbeitenden aus vier sehr unterschiedlichen Welten, die es gegenseitig zu entdecken und vor allem zu verknüpfen galt. In Deutschland wie in Russland findet das Leben tauber und hörender Menschen relativ getrennt voneinander statt, somit war diese Konstellation für alle Beteiligten eine ungewöhnliche und neue Perspektiven eröffnende Situation.
Die größte Herausforderung stellte in der alltäglichen Arbeit die Kommunikation dar. So mussten zum Beispiel während Gesprächsrunden die oft spontanen und wichtigen Beiträge und Gedankenäußerungen der Teilnehmenden wie im Pingpong blitzschnell in vier Sprachen übertragen werden: Deutsch, Russisch und deutsche und russische Gebärdensprache. Dies verlangte von allen viel Geduld und Konzentration und bedeutete in der Projektdurchführung möglichst mit wenigen Worten und stattdessen stark visuell zu arbeiten. Aber auch das Einbeziehen von Gebärden sowie Gestik und Mimik halfen bei der Verständigung untereinander. Dass diese Art der Kommunikation ein schneller und über Sprachen hinweg verbindender Weg ist, entdeckten die hörenden Jugendlichen sehr schnell und beherrschten innerhalb weniger Tage bereits zahlreiche Gebärden.
Besichtigungstouren durch Berlin-Mitte boten erste Anknüpfungspunkte an das Thema des Projektes: Wo gibt es eigentlich Führungen in Gebärdensprache? Sind die Inhalte eines Video-Guides für Gehörlose genauso ausführlich wie die eines Audio-Guides? Die Beschäftigung mit Biographien von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen im Nationalsozialismus verfolgt wurden, war die geeignetste Möglichkeit, um die Wirkungsmacht und Gefahr von diskriminierendem Verhalten verstehen zu lernen. Neben Workshoparbeit entfachten besonders die Ausstellung "Zerstörte Vielfalt – Berlin 1933–1938" und der Besuch des Holocaust-Mahnmals einen lebendigen Austausch über die Geschichte. Ein weiterer Schritt in diesem Lernprozess war ein Workshop in der Trainingsausstellung "7x Jung – Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt" in Berlin. Dort erstellten wir selbst Comics, die konkrete Formen von Diskriminierung aus dem Alltag der Teilnehmenden beispielsweise bei der Berufswahl, in der Disko, im Bus oder beim Einkaufen aufgriffen und uns zeigten, dass es jede und jeden von uns schon mal getroffen hat und treffen kann. Genauso wichtig war auch umgekehrt die Erkenntnis, dass sich alle Teilnehmenden bereits einmal diskriminierend verhalten hatten.
Doch genauso wichtig war es für das Projekt, vom Thematisieren der Ausgrenzung tauber oder anderer körperlich eingeschränkter Menschen wegzukommen, um das soziale Gefüge innerhalb der Gruppe nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. In diesem Zusammenhang zeigte sich sehr schnell, dass sich vor allem die tauben Jugendlichen aus Berlin weniger als Mitglieder einer diskriminierten Minderheit, sondern vielmehr einer Subkultur verstanden und auch so wahrgenommen werden wollten. Beim Gegenbesuch in Wolgograd boten sich dafür zahlreiche Anknüpfungspunkte. So wurde beispielsweise eine Talk-Show mit Gästen der russischen Gehörlosen organisiert und ermöglichte aufschlussreiche Einblicke in deren gesellschaftliches Leben. Wir trafen Andrej, den hörgeschädigten Profifußballer und Lehrer, der die Jugendlichen ermutigte ihren Weg zu gehen; Grischa, den tauben Pantomimeschauspieler, der eine für hörende wie taube Menschen gleichermaßen verständliche Bühnenkunst als Beruf gewählt hat und Andrej Bykow, den langjährigen Vorsitzenden des Gehörlosenverbandes in Wolgograd, der sich seit über 30 Jahren für die Rechte und Teilhabe von hörgeschädigten und tauben Mitmenschen einsetzt. Letzterer berichtete, dass man in Russland jetzt plane, mehr Inklusionsschulen auch für taube Schülerinnen und Schüler einzurichten.
Konflikt- aber auch interkulturelles Lernpotenzial barg das unterschiedliche Selbstverständnis der tauben Menschen in Russland und in Deutschland: Die Ersteren verstehen sich als Menschen, die sich von der Mehrheit eigentlich nicht unterscheiden, nur dass sie eben nicht so deutlich sprechen können. So steht in den Schulen für taube oder stark hörgeschädigte Jugendliche in Russland die lautsprachliche Spracherziehung an erster Stelle. Auf diese Weise soll ihnen ein komplikationsarmes Einfügen in die Mehrheitsgesellschaft ermöglicht werden, was natürlich nie vollkommen gelingen kann. Die tauben Menschen in Deutschland dagegen pflegen mit ihrem Selbstverständnis als Subkultur einen selbstbewussten Umgang mit der Gebärdensprache und allem, was sie von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Dieser Unterschied zeigte sich in unserem Projekt zum Beispiel an einem selbstorganisierten Diskoabend. Voller Begeisterung wurde von den russischen Jugendlichen das Licht ausgeschaltet, so wurde die Atmosphäre noch aufregender und man konnte sich mehr auf die Vibration der Bässe konzentrieren. Bei der deutschen Gruppe weckte dies vor allem Unverständnis, da ihnen damit die Möglichkeit der Kommunikation genommen wurde und auch das gebärdensprachliche Singen nicht möglich war.
Ob sich all die Arbeit, die Mühen und der hohe Personalauswand gelohnt haben? Fragte man die Teilnehmenden am Ende des Projektes, dann hörte man weit und breit nur ein "Ich bin beim nächsten Mal wieder dabei!" Und auch die Teamenden haben viele positive Erkenntnisse mit nach Hause genommen.