Der Krieg in Bosnien und Herzegowina war eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte Europas. Auch fast 20 Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton, der das Zusammenleben in Bosnien und Herzegowina regelt, ist der Kampf dreier Entitäten noch heute in Sarajevo, Mostar und natürlich Srebrenica zu spüren. Die drei Religionen Islam, serbisch-orthodoxes Christentum und katholisches Christentum bilden die Hauptmerkmale der drei Entitäten, die im Land regieren. Dabei wird aber eine nicht unerhebliche Zahl von Nicht-Gläubigen außer Acht gelassen, diese werden, zusammen mit Angehörigen anderer Religionen, systematisch benachteiligt.
Die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang. Ein erster Schritt, die Wunden des Krieges statistisch fassbarer zu machen, sollte die Volkszählung im Herbst 2013 sein. Bis heute ist die Auswertung, trotz überschaubarer Einwohnerzahlen, nicht abgeschlossen, geschweige denn veröffentlicht. Da das wackelige Konstrukt des Friedensvertrags von Dayton auf den Zahlen der letzten Volkszählung von 1991 basiert, könnte mit den neuen Zahlen erstmals statistisch sichtbar werden, was der Krieg gekostet hat und wie viele muslimische, serbisch-orthodoxe und katholische Einwohnerinnen und Einwohner überhaupt (noch) in Bosnien und Herzegowina leben. Die statistische Aufteilung, nach der auch die politische Machtverteilung im Land geregelt ist, könnte also durch die Ergebnisse der Volkszählung gehörig durcheinander gewirbelt und zu einer neuen, schweren Belastungsprobe für das krisengeschüttelte Land werden.
Doch eine vielleicht noch größere Gefahr für die politischen Eliten des Landes geht von "Ostali" aus. Ostali bedeutet "Andere", und unter diese Kategorie zählen sich die Menschen, die nicht einer Entität angehören (wollen). Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene, die den Krieg als Kinder erlebt haben, ist diese statistische Kategorie im Vorfeld der Volkszählung fast zu einem Kampfbegriff geworden. Er steht als Gegenpol zu den riesigen, verfilzten Strukturen der politischen Kaste, die immer noch nur die Interessen "ihrer" Entitäten vertreten wollen. Ostali bedeutet auch, nicht einverstanden zu sein mit den populistischen Debatten, die das Ausgrenzende betonen und das Gemeinsame verschweigen.
Dieser ungewöhnliche "Ostali"-Protest war für uns die Motivation, das Projekt "Ostali – den Anderen eine Stimme geben" anzugehen. Zusammen mit Jugendlichen aus Deutschland und Bosnien und Herzegowina wollten wir den Ursachen und Folgen von Diskriminierung in ihren zahlreichen Formen auf den Grund gehen.
Gemeinsam mit der bosnischen Jugendmedienorganisation OnauBiH (Omladinska novinska asocijacija u Bosni i Hercegovini, dt. etwa Jugendnachrichtenverein in Bosnien und Herzegowina), dem Gymnasium Obala in Sarajevo und Radio F.R.E.I. in Erfurt entwickelte Arbeit und Leben Thüringen ein Seminarkonzept, das den Teilnehmenden die Möglichkeit bot, die Seminarschwerpunkte vor und während des Austauschs mitzubestimmen.
So hatten wir für unsere erste Begegnung in Sarajevo im Oktober 2013 bereits im Vorfeld zivilgesellschaftliche Organisationen angefragt. Vor Ort, und nach zwei Tagen Kennenlernen und thematischem Einstieg, entschieden die 20 Teilnehmenden selbst, wie und mit wem sie tiefer gehend über das Thema Diskriminierung sprechen wollten.
So kamen unter anderem Interviews mit dem Präsidenten der Jüdischen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, einer LGBT-Organisation (LGBT steht für Lesbian, Gay, Bisexual und Trans), einem Mitglied des Presserats von Bosnien und Herzegowina sowie mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband zu Stande. Alle Interviews gingen der Frage nach, wie die Gesellschaft mit sogenannten Minderheiten umgeht, wie eigene Diskriminierungserfahrungen aussehen und was Betroffene sich konkret an Unterstützung wünschen. Die Interviews wurden von den Jugendlichen in bilingualen Tandemteams erarbeitet, durchgeführt und anschließend ausgewertet.
Bei der Rückbegegnung in Deutschland im Frühjahr 2014 setzten sich die Teilnehmenden sehr intensiv mit der Situation der "Anderen" in der NS-Zeit auseinander. So besuchten die Jugendlichen gemeinsam das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Vor allem aber der Besuch des Erinnerungsortes Topf & Söhne und die anschließende Diskussion waren prägend für den Austausch. An einem Täterort – die Firma Topf und Söhne stellte in Erfurt die Krematoriumsöfen für die Vernichtungslager her – stellten besonders die bosnischen Teilnehmenden interessierte Fragen zur individuellen Verantwortung, auch im Hinblick auf die Aufarbeitung der eigenen jüngeren Geschichte und individueller Verantwortung.
Ein weiterer Schwerpunkt bei der Begegnung in Deutschland war die Berichterstattung über sogenannte Randgruppen und Minderheiten. Hier sprachen die Teilnehmenden mit Medienmachenden, die versuchen, denjenigen eine Stimme zu geben, die in den "klassischen" Medien kein Gehör finden. Unter anderem wurden Programmmachende des Freien Radios in Erfurt interviewt, aber auch Medienmachende eines linken Filmkollektivs sowie die Redakteurin einer Straßenzeitung.
Der Austausch war als Radioprojekt angelegt, an dessen Ende eine gemeinsame, zweisprachige Radiosendung stand. Diese wurde im Anschluss sowohl in Deutschland als auch in Bosnien und Herzegowina ausgestrahlt.
Radioprojekte sind eine Möglichkeit, um mit Jugendlichen auch heikle Fragen zu diskutieren. Häufig lassen sich schwierige oder sehr emotionale Themen besser mit Betroffenen erörtern, wenn die Jugendlichen in die neutralere Rolle einer Journalistin oder eines Journalisten schlüpfen können. Dabei entsteht ein Schutzraum, in dem Jugendliche ihre Fragen stellen können, ohne dabei selbst Position beziehen zu müssen. Außerdem gibt es im Journalismus keine "dummen" Fragen.
Darüber hinaus erreicht die Radiosendung, wenn sie ausgestrahlt wird, natürlich noch einmal viel mehr interessierte Ohren. Das Lernerlebnis wird also nicht nur für die Jugendlichen erfahrbar, sondern ist auch für interessierte Hörerinnen und Hörer nachvollziehbar.
Ein Austausch mit Bosnien und Herzegowina birgt einige spannende Herausforderungen für Teilnehmende, aber auch Teamende. So haben deutsche Jugendliche keine eigenen Erinnerungen an die Zeit des Bosnienkriegs. Auch spielt dieser Konflikt in Schule und Alltag eigentlich keine Rolle. Doch für die Jugendlichen aus Bosnien und Herzegowina ist der Krieg historisch jüngste Vergangenheit und damit noch immer allgegenwärtig. Wenig ist darüber bekannt, wie mit den Tätern heute strafrechtlich umgegangen wird und Opfer entschädigt werden. Und über allem hängt der brüchige Frieden der internationalen Gemeinschaft.
Für deutsche Jugendliche sind hingegen die Zeit des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und seine Folgen inzwischen eher abstrakte historische Begebenheiten, die im Rahmen von Erinnerungsarbeit moralisch und emotional diskutiert werden. Durch den Austausch mit Bosnien und Herzegowina erleben sie Jugendliche, die während oder kurz nach dem Krieg geboren wurden und deren Eltern und Angehörige direkte Zeitzeugen sind. Sie kommen so auch ins Gespräch mit Menschen, die bis heute unter den direkten Folgen der Kampfhandlungen und Massaker zu leiden haben. Hier öffnet sich also ein weites Feld für die Arbeit am Themenfeld Antidiskriminierung. Da in Zukunft die Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugin der NS-Zeit immer seltener wird, ist es wertvoll, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die unter den Folgen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gelitten haben beziehungsweise noch leiden.
Auch für Teamende ist die Situation der drei Entitäten in Bosnien und Herzegowina eine Herausforderung. So gilt es beispielsweise, empathisch auf die religiösen Gefühle der Teilnehmenden einzugehen. Gleichzeitig ist es aber aus deutscher Sicht immer wieder irritierend, wie scheinbar emotionslos einige bosnische Jugendliche auf geschilderte Gräueltaten reagieren. Obwohl dies in Reflexionsrunden durchaus zur Sprache kam, müssen sich die Teamenden klar machen, dass ein zweiwöchiger Austausch keinen Ersatz für eine möglicherweise benötige Traumatherapie darstellt. Im Bedarfsfall sollten eher im Anschluss, in Absprache mit den bosnischen Teamenden, individuelle Lösungen gesucht werden.
Bildungsarbeit mit dem Schwerpunkt Antidiskriminierung wird in den kommenden Jahren weiterhin einen wichtigen Stellenwert in der politischen Jugendbildung haben. Ein Austausch über Länder und religiöse Grenzen hinweg stellt dafür nach wie vor ein bevorzugtes Werkzeug für einen nachhaltigen Seminarerfolg dar.
Gerade Bosnien und Herzegowina ist hier ein interessantes Arbeitsfeld. Neben der historischen Aufarbeitung bietet auch die Gegenwart viele Möglichkeiten für Austauschprojekte. Ob es nun das Sejdic-Finci-Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und die daraus resultierenden Folgen für die bosnische Gesellschaft ist, oder das sprunghaft angestiegene Engagement muslimischer Staaten in Bosnien und Herzegowina: Diskussionsstoff gibt es für Jahre. Und natürlich steht auch noch die Frage im Raum, wie viele "Ostali" es denn nun in Bosnien und Herzegowina gibt und welche Rolle sie in den nächsten Jahren spielen werden. Unsere nächste Begegnung findet bereits im April 2015 statt.