Internationale Jugendbegegnungen oder Studienseminare sind schon lange Teil der Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, auch an Gedenkstätten. Im Gegensatz zu Kurzzeit-Angeboten steht bei internationalen Projekten seit jeher nicht nur die Vermittlung von Geschichte als Lernziel fest. Die "Begegnung" soll dem interkulturellen Austausch, der "Aussöhnung" oder aber dem Abbau von Stereotypen und Vorurteilen dienen. Mit dem Siegeszug der Human-Rights-Education sind auch vermehrt Bezüge zu gegenwärtigen Problemlagen gefordert worden. Diskriminierungen sollen nicht nur als historisches Phänomen betrachtet, sondern es sollen vielmehr auch Bezüge zur Alltagswelt der Teilnehmenden hergestellt werden. Wir werden deswegen im Folgenden die Frage diskutieren, was es bedeutet, mit "marginalisierten" Gruppen oder Gruppen, die individuelle oder kollektive Diskriminierungserfahrungen haben, an Gedenkstätten zum Nationalsozialismus zu arbeiten. Dies wird beispielhaft anhand zweier in vielerlei Hinsicht unterschiedlich verlaufender Jugendbegegnungen thematisiert, bei denen jeweils eine Seminarwoche im Max Mannheimer Studienzentrum Dachau stattfand und bei denen ganz unterschiedliche Gruppendynamiken zum Tragen kamen.
Das Projekt beschäftigte sich mit der Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma in Deutschland und Serbien in Geschichte und Gegenwart. Zwischen zwei Seminarwochen in Dachau und Belgrad führten die Teilnehmenden Interviews, aus denen im Laufe der zweiten Seminarwoche vier kurze Filme produziert wurden. Die Filme sind inzwischen bei Youtube zu sehen.
Die Gruppe war in vielerlei Hinsicht äußerst heterogen. In Alter und Bildungsstand unterschieden sich die Teilnehmenden erheblich, die Spanne reichte von 14 bis 23 Jahren, von der Förderschule bis zur Universität. Aus beiden Ländern nahmen sowohl Sinti und Roma als auch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaften teil. Im Laufe der Begegnung stellte sich heraus, dass es ganz unterschiedliche Interessen und Ziele gab. Es zeigte sich, dass die Erfahrungen, die während der Begegnung gemacht wurden, zwar stark von der Zugehörigkeit zu einer kollektiven Gruppe abhingen, aber sozialer Status und Bildungsstand ebenfalls eine große Rolle spielten.
Für die deutschen Sinti war es ungewöhnlich, für die Gruppe als Experten und Expertinnen für "ihre" Kultur – und am ehemaligen Ort des Konzentrationslagers auch für die Geschichte – fungieren zu müssen. Sie nahmen diese Rolle nach einiger Zeit allerdings mit einem gewissen "Stolz" an. Die serbischen Roma arbeiteten alle bereits in NGO-Zusammenhängen und waren diese Rolle weitaus mehr gewohnt. Sie sprachen weniger aus einer individuellen Erfahrungsperspektive, sondern fungierten vielmehr als Experten und Expertinnen für die Situation der Roma in Serbien im Allgemeinen. Die Begegnung mit einem deutschen Sinto-Überlebenden führte zu einem stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den teilnehmenden Sinti und Roma. Nach dem offiziellen Gespräch suchten die deutschen und serbischen Sinti und Roma nochmals das Gespräch (z.T. auf Romanes) außerhalb des offiziellen Rahmens, d.h. ohne die Teilnehmenden aus den Mehrheitsgesellschaften. Am Ende der Seminarwoche in Dachau besuchten die deutschen Sinti erneut die KZ-Gedenkstätte und hielten eine eigene Gedenkfeier ab. Es wurde insgesamt deutlich, dass der historische Ort der KZ-Gedenkstätte für sie eine andere Bedeutung hatte als für die anderen Teilnehmenden. Das Sprechen über die historische Verfolgung bot einen Rahmen, in dem auch eigene Diskriminierungserfahrungen formuliert werden konnten. Im Anschluss organisierten die deutschen Sinti Interviews in den Familien, besuchten mit ihren Eltern die Gedenkstätte und begannen, im Verwandtenkreis Fragen zur Geschichte zu stellen. Dadurch wurde ein stärkerer Bezug zwischen Nationalsozialismus und Gegenwart hergestellt. Dies war zwar in der Projektentwicklung als Ziel formuliert worden, sollte aber nicht unter Druck durchgesetzt werden. Es sollte den Teilnehmenden selbst überlassen werden, inwieweit sie die Begegnung zum Raum für die Artikulation eigener Diskriminierungen werden lassen wollten.
Im Projekt "Memory Lab Junior" setzen sich Jugendliche und junge Erwachsene mit der Frage auseinander, welche Beziehungen zwischen Geschichte, Erinnerung und Identität bestehen. Die Teilnehmenden aus Bosnien, Deutschland, Frankreich und Serbien beschäftigen sich in drei Seminaren mit den Erinnerungen an den Nationalsozialismus, dem Umgang mit den Jugoslawienkriegen in Bosnien und in Serbien sowie mit kolonialgeschichtlichen Debatten. Das Projekt zielt darauf ab, Interesse daran zu wecken, Geschichte und nationale bzw. nationalistische Narrative zu hinterfragen, sowohl in einer historischen als auch in einer gegenwärtigen Perspektive. Der erste Teil in Dachau befasste sich mit der Geschichte des Konzentrationslagers und der Gründung der Gedenkstätte. Während der ersten beiden Tage des Workshops lernten sich die Teilnehmenden in verschiedenen, spielerischen Einheiten kennen. Dabei entstand ein angenehmes Gruppenklima. Mit dem Besuch der Gedenkstätte änderte sich die Gruppendynamik. Die bosnischen Teilnehmenden wollten als Gruppe Zeit ohne die anderen Teilnehmenden verbringen. Sie drückten ihre Trauer angesichts der Verbrechen in Dachau aus und fühlten stark mit den Opfern und deren Familien mit. Gleichzeitig setzten sie die eigenen persönlichen, familiären und die von ihnen als kollektiv-bosnisch wahrgenommenen Erfahrungen von Kriegsverbrechen während der Jugoslawienkriege in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Leid der Opfer des NS. So verwies eine Teilnehmende darauf, dass sie schon alles kenne, was sie in Dachau gesehen habe. Die Lager in Bosnien während der Jugoslawienkriege seien dasselbe gewesen. Sie und die bosnischen Teilnehmenden könnten deswegen auch besser als die anderen nachempfinden, wie es den Häftlingen ergangen sei.
Der Besuch der Gedenkstätte rief bei den bosnischen Teilnehmenden also andere Reaktionen hervor als bei der übrigen Gruppe. Für sie bestand kaum ein Unterschied zwischen den Konzentrationslagern und den Lagern während der Jugoslawienkriege. Die Gleichsetzung erschwerte die kognitive Auseinandersetzung mit beiden Themen, da Diskussionen von der bosnischen Gruppe als zynisch oder "kaltblütig" wahrgenommen wurden, wie eine Teilnehmerin später schrieb. In ihren Augen gab es angesichts der Verbrechen nichts zu diskutieren, der Ausdruck der Trauer war vorrangig. Sie waren selbst von ihren Leiderfahrungen gefordert, sodass eine vielschichtige Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für sie kaum zu leisten war. Die übrigen Teilnehmenden hatten selbst keine vergleichbaren kollektiven Leiderfahrungen gemacht. Die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und deren Aufarbeitung war für den Rest der Gruppe zunächst eine intellektuelle und erst an zweiter Stelle eine emotionale Frage. Daran entwickelte sich ein Konflikt: Die bosnischen Teilnehmenden hatten das Bedürfnis "unter sich" über die bosnischen Leiderfahrungen zu sprechen, während die anderen Teilnehmenden Interesse an einem diskursiven Austausch über die Geschichte des NS und die Erinnerungs-und Gedenkkultur hatten. Die gesamte Gruppe stieß zu diesem Zeitpunkt an ihre Belastungsgrenze und die Gruppenkommunikation wurde problematisch. Erst mit einem thematischen Wechsel zur Frage nach dem Umgang mit Täterorten, der mit einem Ortswechsel verbunden war, entspannte sich die Situation.
Bisher gibt es kaum Studien zur Wirkung internationaler Jugendbegegnungen. Auch bei den beiden vorgestellten Projekten ist schwer einzuschätzen, ob die Teilnahme einen nachhaltigen Einfluss auf die Jugendlichen hatte und welche Rolle die Arbeit an und mit der Gedenkstätte für längerfristige Entwicklungsprozesse spielt. Wir empfinden es jedoch als Erfolg, dass sich die Jugendlichen des Projekts "Erzählungen vom Unrecht" intensiv mit (Familien-)Geschichten auseinandergesetzt haben und die teilnehmenden Sinti die Gedenkstätte als für sie relevanten Ort kennenlernen konnten. Das Beispiel des Projekts "Memory Lab Junior" zeigt allerdings, dass der Besuch einer Gedenkstätte auch ein Hindernis für eine Begegnung darstellen kann: Die bosnischen Teilnehmenden waren aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen von dem Besuch der Gedenkstätte überfordert und zogen sich aus der Gruppe zurück. Hinsichtlich des Begegnungsaspekts wäre ein Seminar zu einem anderen Thema einfacher gewesen. Bei beiden Gruppen lässt sich weiterhin feststellen, dass während des Projekts die Identität als Sinteza und Sinto in Deutschland bzw. als Bosnierin und Bosnier wichtiger wurde. Es wäre deswegen für eine zukünftige Forschung zu internationalen Jugendbegegnungen wünschenswert, dass die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Identitätsbildungsprozessen und der Arbeit an historischen Orten eine relevante Fragestellung bleibt.