Unter Pädagoginnen und Pädagogen, die sich mit antisemitismuskritischer Bildungsarbeit beschäftigen, besteht eine relativ hohe Einigkeit zu folgenden Feststellungen:
dass der Umgang mit Geschichte, insbesondere mit Holocaust und Nationalsozialismus nicht gegen gegenwärtigen Antisemitismus wirkt;
dass es "Antisemitismus ohne Juden" gibt;
dass Antisemitismus ein Weltbild ist, das Erklärungen für viele vorherrschende Probleme liefert, von Projektionen genährt ist und eine identitätsstiftende Funktion hat, also ein Wir-Gefühl bildet;
dass es heute weniger um rechtsextreme Varianten von Antisemitismus geht, sondern um subtilen, manchmal offenen Antisemitismus "nach oder trotz Auschwitz", geprägt von Ressentiments und Verschwörungstheorien;
dass Antisemitismus viele Formen und Versionen hat und sich Antisemitismus in Kapitalismuskritik, Kritik am Staat Israel und Kosmopolitismus-Kritik verstecken kann;
dass eine Politisierung des Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt stattfindet, was dazu beitragen kann, sich selbst als Opfer der "übermächtigen Juden" darzustellen und die Bildungsaufgabe erschwert.
In den letzten Jahren lassen sich vier Bildungsstrategien gegen Antisemitismus ausmachen, die im Folgenden diskutiert werden; sie berücksichtigen verschiedene Konstellationen in unterschiedlicher Weise und reagieren insbesondere auf folgende Facetten des Antisemitismus:
Antisemitismus als Konstellationen von Diskursfiguren erkennen und dekonstruieren;
Antisemitismus als Erfahrung im Gesamtbereich Rassismus/ Diskriminierung – also eine Intervention im sozialen Nahraum;
Antisemitismus als Intergruppenkonflikt und demzufolge Begegnungsprojekte vor dem Hintergrund der Kontakthypothese;
Antisemitismus als Global- und Lokalgeschichte – also Arbeit mit Geschichte(n) und Erinnerung(en).
Sehen wir uns also die vier Bildungsstrategien, ihre Möglichkeiten, Grenzen und spezifischen Herausforderungen genauer an:
In diesem Ansatz geht es darum, zunächst antisemitische Denkfiguren und Bilder als solche zu erkennen, um dann diese Bilder und Diskurse zu analysieren, sie zu dekonstruieren und antisemitische Denkmuster infrage zu stellen. Es ist also eine vorwiegend kognitive Annäherung, eine Arbeit mit Repräsentationen, die sowohl im Klassenraum wie auch in Jugendbegegnungszentren praktiziert wird. Bei den Inhalten dieser Bilder handelt es sich um Verschwörungstheorien und Machtphantasien, Gerüchte über "die Juden", die angeblich paradoxerweise sowohl mit Übermacht ausgestattet als auch ewige Opfer sind. In diesem Zusammenhang kann man "Antisemitismus ohne Juden" beobachten, da diese Bilder in vielen Kontexten existieren, auch ohne dass Juden gegenwärtig sind. Es handelt sich nicht nur um Feindbilder, sondern auch um eine Weltanschauung, die Erklärungsmuster für alles liefern kann.
Dieser Ansatz zielt darauf ab, bei den Jugendlichen kulturelle und kognitive Kompetenzen, wie Medienkritik, die kritische Betrachtung von Comics, die bewusste Wahrnehmung von Antisemitismus im Internet etc. zu stärken, um dadurch Stereotypien und ihre Mechanismen durchschauen zu lernen.
Die Herausforderung bei diesem Ansatz ist, dass die genannten Bilder tief in Kultur und Gesellschaft verankert sind und sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam verändern. Bei der Arbeit mit Bildern und Repräsentationen besteht die Gefahr, diese zu reproduzieren. Das Ziel besteht darin, Denkfiguren aufzudecken und durch ihre Dekonstruktion Argumentationskompetenzen zu stärken.
Ganz anders geht der zweite Ansatz vor, bei dem Antisemitismus als Erfahrung im sozialen Nahraum im Kontext zunehmender Ethnisierung von sozialen Konflikten angegangen wird. Eine Erfahrung, die in einer alltäglichen Lebenswelt von allen Beteiligten in ihren Dimensionen von Inklusion und Exklusion erlebt wird, soll bewusst geteilt werden. Diese Bildungsstrategie versucht in Gruppen oder in Workshops persönlich erlebte Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen anzusprechen und auszutauschen. Die Beschäftigung mit der Dimension des selbst Erlebten verlangt, dass die Erfahrungen aller Beteiligter zur Sprache kommen, sei es Antisemitismus oder eine der vielen Formen von Rassismen, darunter auch antimuslimischer Rassismus oder Antiziganismus. In solche Workshops werden oft auch andere Diskriminierungskategorien wie Homophobie oder Sexismus mit einbezogen.
Es handelt sich hier um einen Ansatz, der in der Antidiskriminierungspädagogik bekannt ist und der Vorfälle weder hierarchisiert noch wertet. Er bietet jeder Person die Gelegenheit, eigene Erfahrungen als Betroffene darzulegen, z.B. Ressentiments, Entwürdigung und alltägliche Diskriminierung. Auch soziale und räumliche Benachteiligungen, die Jugendliche je nach Kontext und Situation als Täter oder Täterinnen, als Opfer oder als Bystander erleben, kommen zur Sprache. Auf der Basis der Anerkennung dieser Erfahrungen wird im nächsten Arbeitsschritt nach gemeinsamen Strategien gesucht, um Diskriminierungen und Hass entgegenzuwirken und solidarisch zu handeln. Ziel dieser Bildungsveranstaltungen ist es, alle dazu anzuregen, Verantwortung zu übernehmen.
Es macht einen großen Unterschied, ob bei diesem Zugang jüdische Jugendliche anwesend sind oder nicht. Eine Gefahr besteht darin, dass Pädagoginnen und Pädagogen bei Abwesenheit jüdischer Teilnehmenden eine Stellvertreterposition einnehmen könnten. Eine solche Gleichstellung mit jüdischen Opfern wird seitens anderer Jugendlicher aber als moralisierend empfunden, ruft häufig Abwehrreaktionen hervor oder verstärkt bereits vorhandene Widerstände.
Dieser Ansatz ist sozialpädagogischer Art und wird eher im außerschulischen Raum praktiziert.
In diesem Bildungsansatz wird Antisemitismus als Intergruppen-Beziehung definiert, und es wird der Kontakt zwischen sich gegenseitig ablehnenden Gruppen gefördert. Diese Überlegungen haben zu Begegnungsprojekten zwischen jüdischen und nichtjüdischen Jugendlichen geführt, die gegen Antisemitismus wirksam werden sollen.
Doch Intergruppenkontakte und Begegnungen haben nur einen positiven Effekt, wenn gewisse Bedingungen berücksichtigt werden. Diese Bedingungen haben zu verschiedenen Begegnungsmodellen geführt. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass der Kontakt eine sehr sorgfältige Vor- und Nachbereitung erfordert, dass möglichst gleichwertige Gruppen (Anzahl, Status oder Bildungsgrad betreffend) zusammengebracht werden sollten und dass eine Co-Moderation von Pädagogen beider Gruppen notwendig ist.
Eines der Ziele der Begegnungspädagogik besteht darin, Vorurteile und Stereotypen abzubauen, indem "die Anderen" – über die oft phantasiert wird, ohne dass sie real bekannt sind – in ihrer spezifischen, aber auch allgemein menschlichen Natur erlebt werden. Allerdings können unzureichend durchdachte Begegnungsprojekte entgegen der pädagogischen Intention intergruppale Feindseligkeit verstärken.
Etliche Begegnungsprojekte sind auch Dialogprojekte, in denen "die Anderen" befragt, aber auch die eigenen Vorurteile hinterfragt werden. Dialog führt im besten Fall zum Verständnis "des Anderen", oder auch, von der Kritik "der Anderen" ausgehend, zur kritischen Betrachtung "des Eigenen", also zu Reflexion oder sogar Selbstkritik.
Nun birgt aber ein Antisemitismus-Begegnungsprojekt ein Risiko, nämlich das der Asymmetrie. Wenn nur Antisemitismus thematisiert würde, würden automatisch die jüdischen Teilnehmenden auf die Opferposition reduziert und die nichtjüdischen der Täterposition zugeordnet. Aus der Debatte zu antirassistischer Pädagogik ist bekannt, dass eine solche Asymmetrie Abwehr und Ressentiments auslöst und in eine Sackgasse führen kann. Ohne Gegenseitigkeit ist Begegnungspädagogik nicht möglich. Womit keinesfalls in die Falle eines bekannten antisemitischen Topos getappt werden sollte: Statt nunmehr Juden und Jüdinnen kollektiv als Täter zeichnen zu wollen, muss es vielmehr darum gehen, sie als Individuen wahrzunehmen, die wie alle anderen Menschen auch Verursacher und Verursacherinnen von rassistischen Haltungen, Gedanken, Bildern oder Vorurteilen sein können, die ja eben in diesen Begegnungen von allen hinterfragt werden sollen.
Doch können Begegnungs- und Dialogprojekte, die sich spezifisch gegen Antisemitismus richten, wirklich nach den Regeln der Gegenseitigkeit konstruiert werden? Und was heißt das genau – wer würde wem begegnen? Wenn der Antisemitismus ein Konstrukt oder ein Gerücht ist, das ohne real Betroffene auskommt, kann man niemandem begegnen: Man kann wohl kaum Dialogprojekte zwischen "Antisemiten" und "Juden" konstruieren. Und falls die Frage des Antisemitismus nicht explizit gemacht wird, bleibt die Frage offen, mit welcher Legitimierung und zu welchem Thema ein Dialog vorgeschlagen wird. Eine Ausnahme bilden Projekte, die auf Solidarität mit den Betroffenen zielen – sei es gegen Rassismus oder Antisemitismus.
Der gegenwärtige Antisemitismus bezieht sich weder ausschließlich noch direkt auf die Geschichte, und es wird immer wieder von Pädagoginnen und Pädagogen bestätigt, dass das Wissen um die Vernichtung der Juden nicht gegen heutigen Antisemitismus wirkt. Dennoch kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit wichtige neue Einsichten bringen. Vor allem bieten Ansätze zur Geschichts- und Erinnerungsarbeit im lokalen Kontext interessante Perspektiven zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit, wobei es hier nicht nur um Geschichte aus der Epoche des Nationalsozialismus geht, sondern um Geschichte, die Perspektiven sowohl der Mehr- wie auch der Minderheiten umfasst.
Sich mit dem lokalen Kontext zu beschäftigen und Spuren von alltäglichen und außerordentlichen Ereignissen nachzugehen, fördert zudem ein Bewusstsein für die Verbindung zwischen lokaler und globaler Geschichte sowie für die Diversität der Gesellschaft gestern und heute. Es gilt einerseits, Erinnerungen der eigenen Familienmitglieder aufzuarbeiten, also biografische Zugänge zu Migration, zu Krieg, Flucht, Exil oder zur Geschichte der Alltags- und Arbeitswelt zu finden. Andererseits soll in diesem Kontext auch auf das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Nachbarn eingegangen werden. All dies kann anhand von Gebäuden, Straßen, Archiven und Plätzen geschehen.
Es ist also ein territorialer Ansatz, in dem die citoyenneté im Sinne von territorialer Zugehörigkeit und aktiver Partizipation aller Beteiligten im Vordergrund steht. Hier könnte zum Beispiel das Thema der Zugehörigkeit von Sinti und Roma zum lokalen Territorium ebenfalls spannende Perspektiven ergeben.
In diesem Ansatz steht Antisemitismus nicht unbedingt als Thema im Vordergrund, sondern wird im Kontext der Quartiers-, Stadtteil- oder Dorfgeschichte relevant. Eine inklusive Wahrnehmung der Beziehungsgeschichte zwischen Mehr- und Minderheiten kann ebenfalls dazu beitragen die Entstehung und Entwicklung von Stereotypen und die kategorisierenden Zuschreibungen zwischen "Uns" und "den Anderen" konkret zu hinterfragen.
Die vier Bildungsstrategien stehen in keiner Weise widersprüchlich zueinander, und es sollte stets erwogen werden, inwieweit sie sich gegenseitig ergänzen können.
Ihnen gemeinsam ist, dass antisemitismuskritische Bildung immer hohe Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen stellt; diese sind immer wieder gefordert, sich zwischen Banalisierung und Dramatisierung zu positionieren. Auch stößt die Dekonstruktion von Stereotypen, also von kollektiven Bildern, teilweise auf Widerstände. Diese sind umso stärker, wenn es sich um gefestigte Repräsentationen einer abstrakten Kategorie handelt, der große Macht zugeschrieben wird, wie das bei den Juden, denen seit Jahrhunderten geheime Machtgier unterstellt wird, der Fall ist.
Es zahlt sich oft aus, mit Dissonanzen zu arbeiten: Widersprüche bei sich selbst oder der Geschichte der eigenen "Wir"-Gruppe zu entdecken, seien es nun soziokognitive oder normative, kann ein wertvolles Motiv zur Einstellungsänderung darstellen. Auch ist es lohnend, konkrete Situationen zu betrachten; "critical incidents", das heißt kritische Vorfälle, die von den Beteiligten selbst erlebt wurden. Sie zwingen einen dazu, sich mit konkreten Vorfällen zu befassen, vermeiden das allgemeine Sprechen über "die Juden", "die Türken", "die Anderen" und erkunden somit konkrete Erfahrungen und Handlungsspielräume.
In den vier Bildungsansätzen wird unterschiedlich mit der Frage umgegangen, ob die verschiedenen Formen von Antisemitismen und Rassismen gemeinsam oder getrennt angegangen werden sollen. Im ersten wird Antisemitismus oft separat thematisiert, aber dem gemeinsamen Erforschen von rassistischen und antisemitischen Bildern steht nichts entgegen. Die Ansätze zwei und drei arbeiten mit gemeinsam erlebten Hass- und Diskriminierungserfahrungen, und im vierten Ansatz kommen alle Erinnerungen und Geschichten zur Sprache; dabei geht es keineswegs um pädagogischen Opportunismus, sondern um die Gleichstellung der Mitglieder einer Gesellschaft, welcher Gruppe sie auch angehören, und um ihr Recht, eigene Erfahrungen ohne Banalisierungen oder Hierarchisierungen im pädagogischen Raum einzubringen.
Wichtig ist, nicht-anklagende, antisemitismuskritische Bildungsperspektiven zu entwickeln, welche Selbstreflexion fördern und auf einer inklusiven Perspektive beruhen – ohne eine implizite oder explizite Kategorisierung zwischen "Guten" und "Bösen", Antisemiten und Nicht-Antisemiten, Rassisten und Nicht-Rassisten. Im Bildungsraum bleibt uns die Gratwanderung, die Vielfalt von Antisemitismen sowohl im sozialen Nahraum im Kontext der verschiedenen Rassismen anzugehen als auch als eigenes Phänomen mit spezifischen Konstellationen zu betrachten, nicht erspart.
Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung des gleichnamigen Aufsatzes in EINSICHTEN 08 (2012). Wir danken dem Fritz Bauer Institut für die Abdruckgenehmigung.