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Rassismen stellen eine spezifische Ausprägung von Diskriminierung dar. Wie andere Formen von Diskriminierung stehen sie in einem unauflöslichen Zusammenhang, einer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Ungleichheiten: Durch Formen von Diskriminierung (also auch: von Rassismen) werden soziale Ungleichheiten und Hierarchien in einer bestimmten Weise geformt, begründet und gerechtfertigt.
Rassismus stellt keine a-historische Ideologie dar. Vielmehr gilt: Unterschiedliche Rassismen waren und sind immer Ausdruck und Bestandteil historisch situierter gesellschaftlicher Verhältnisse. In der Gegenwartsgesellschaft sind Rassismen keine dominante Ideologie mehr und auch kein strukturiertes Moment der Gesamtgesellschaft. Das heißt – um einem erwartbaren Missverständnis vorzubeugen – keineswegs, dass es keine rassistischen Ideologien, Diskurse und Praktiken mehr gibt. Als zentrale Begründung und Rechtfertigung von Ungleichheits- und Machtverhältnissen ist inzwischen aber „gewöhnlicher Nationalismus“ (Thomas Pogge) an die Stelle der tradierten Rassismen getreten, der mit einer ausdrücklichen Distanzierung von biologisch-rassistischen und ethno-rassistischen Konstrukten einhergehen kann.
Durch unterschiedliche Formen von Diskriminierung reagieren moderne Gesellschaften auf einen fundamentalen Widerspruch: Historisch und gegenwärtig sind für diese Gesellschaften einerseits globale und nationalgesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse kennzeichnend, die in die Strukturen der Gesellschaft eingeschrieben sind. Sichtbar werden diese Ungleichheiten nicht zuletzt als Einkommen- und Vermögens-, als Macht- sowie als Prestigehierarchien. Anderseits beschreiben sich moderne Gesellschaften als ein Zusammenleben gleicher und freier Individuen. Das daraus resultierende Problem besteht darin, die dem Anspruch nach freien und gleichen Individuen auf die sozial ungleichen Positionen in der Gesellschaft zu verteilen sowie die vorgenommenen Positionszuweisungen zugleich auch zu begründen und zu rechtfertigen. Diskriminierung ist eine historisch und aktuell wirksame Lösung dieses Problems: Diskriminierung ersetzt die Annahme freier und gleicher Individuen durch eine Einteilung der nationalen Bevölkerung und der Menschheit in ungleiche und ungleichwertige Kollektive (Geschlechter, soziale Klassen, Ethnien, Kulturen, „Rassen“ usw.), denen Individuen zugerechnet werden und für die genetisch und/oder sozial und/oder kulturelle Sondermerkmale behauptet werden. Dies führt zu der Annahme unterschiedlicher und ungleichwertiger Eigenschaften der Angehörigen des jeweiligen Kollektivs, die zur Begründung und Rechtfertigung von Positionszuweisungen verwendet wird: Ein bestimmter Ort in den sozialen Hierarchien wird als derjenige dargestellt, der den Merkmalen des jeweiligen Kollektivs angemessen ist; als der aktuelle soziale Ort, der dem Kollektiv entspricht ist oder den es eigentlich einnehmen sollte. Ideologien der Diskriminierung bilden bestehende Ordnungen der Ungleichheit als gute Ordnungen ab oder entwerfen das Bild einer anstrebenswerten anderen Ordnung.
Rassismen unterscheiden sich – wie andere Formen von Diskriminierung auch – folglich in Abhängigkeit von den jeweils bedeutsamen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen und Hierarchien, die sie begründen und rechtfertigen sollen. Sie unterscheiden sich darüber hinaus in Hinblick auf die gesellschaftlichen Wissensbestände, Werte und Normen, die sie als sozial anerkannte voraussetzen und an die sie appellieren können.
Der koloniale Rassismus und der Rassismus der Sklavenhaltergesellschaften mussten eine umfassende Entrechtung und Ausbeutung ermöglichen. Sie konnten dies mittels der zeitgenössisch weitgehend unstrittigen Annahme der Existenz biologisch-genetischer ungleicher Rassen tun. Demgegenüber reagieren gegenwärtige Rassismen (in EU-Europa) auf Konflikte zwischen Mehrheiten und Minderheiten, Ansässigen und Migrant/innen in demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Nationalstaaten, in denen umfassende Entrechtung und Ausbeutung nicht zulässig sind. Biologischer Rassismus ist in diesen Gesellschaften keine vorherrschende Denkweise mehr, sondern wird von den politischen, ökonomischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Eliten als eine unzeitgemäße, moralisch verwerfliche und wissenschaftlich nicht haltbare Ideologie ablehnt. Ethno-rassistische und kulturrassistische Nachfolgekonzepte sind zwar zweifellos einflussreich, aber kein gesellschaftsstrukturell verankertes Ordnungsprinzip. Unter Bedingungen fortschreitender Globalisierung wird vielmehr ein produktiver Umgang mit soziokultureller Vielfalt zu einer zunehmend einflussreichen Programmatik der politischen und ökonomischen Eliten.
Dagegen besteht ein zentrales politisches und rechtliches Ordnungsprinzip der Gegenwartsgesellschaft darin, dass die Weltgesellschaft in Nationalgesellschaften unterteilt ist. Die Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit zu einer Nationalgesellschaft führt zu weitreichenden politischen und rechtlichen Ungleichheiten, ermöglicht oder behindert Mobilität, eröffnet oder verschließt Zugangsmöglichkeiten zu Arbeitsmärkten und Wohlstand. Lebensbedingungen und Lebenschancen werden folglich zu einem erheblichen Teil durch die nationale Abstammung bzw. den Geburtsort erworben. Sie sind damit Folgen einer schicksalhaften Zuweisung, einer „birthright lottery“ (Joseph Carens). Die nationale Zugehörigkeit ist das moderne Äquivalent der Standeszugehörigkeit in Feudalgesellschaften und widerspricht allen gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen. Gleichwohl gelingt es gesellschaftlich weitgehend, die gravierenden Folgen der nationalen Zugehörigkeit zu legitimieren. Ist dafür ein modernisierter Rassismus die zentrale Ursache?
Biologisch-rassistische bzw. kulturrassistische Unterscheidungen sind mit Unterscheidungen nach Staatsangehörigkeit ersichtlich verschränkt, aber keineswegs mit diesen identisch. Dies wird in der Rechtsordnung offenkundig: Diskriminierungsverbote untersagen rassistische und ethnisierende Diskriminierung. Sie lassen aber Bevorzugungen und Benachteiligungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zu. Diesem rechtlich verankerten Nationalismus korrespondiert ein „gewöhnlicher Nationalismus“ (Thomas Pogge), der die Existenz von Nationalstaaten als fraglos-selbstverständliche Tatsache ebenso voraussetzt wie ein Verständnis von Politik als legitime Verfolgung national gefasster Interessen. Dieser unaufgeregte Nationalismus kann auf Beschwörungen der nationalen Überlegenheit ebenso verzichten wie auf ethnische und rassistische Bestimmungen nationaler Zugehörigkeit – auch wenn beides dennoch immer wieder geschieht. Unverzichtbar sind allein eine Naturalisierung der bestehenden staatlichen Ordnung sowie ein Verständnis politischer und moralischer Verpflichtung als primär nationale. Der gewöhnliche Nationalismus etabliert auch Betroffenheitshorizonte: An Mitgefühl und Solidarität wird – von außergewöhnlichen Katastrophen abgesehen – vor allem im Hinblick auf die nationalen Mitbürger/innen appelliert.
Unter Bedingungen fortschreitender Globalisierung verlieren historische Rassismen an Plausibilität. Ihr modernes Äquivalent sind Nationalismen, die für die Abwehr von Migrationsbewegungen ebenso von zentraler Bedeutung sind wie für die Rechtfertigung von Außen- und Wirtschaftspolitik.
Thomas Pogge: Weltarmut und Menschenrechte. Berlin: de Gruyter 2011
Albert Scherr: Diskriminierung. Freiburg: Centaurus 2012
Albert Scherr: Offene Grenzen? Migrationsregime und die Schwierigkeiten einer Kritik des Nationalismus. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. 43. Jg., H. 171/2012, S. 335-349
Loic Wacquant: Für eine Analytik rassistischer Herrschaft.