Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Olivia stemmt die Beine in den Boden. Sie weint und will die Turnhalle nicht betreten. Gutes Zureden der Lehrerin hilft nichts, Olivia bewegt sich keinen Zentimeter. Sie hat Angst. Schließlich schreit sie: „Wo ist die Frau mit den schwarzen Haaren?“ Die ist schon auf dem Weg und als sie ankommt, geht es Olivia bald besser. Die Schulmediatorin spricht mit ihr in ihrer Muttersprache und erklärt, was in der Turnstunde unternommen wird. Am nächsten Tag begleitet sie Olivia auf dem Klassenausflug, denn sonst würde das kleine Mädchen, das gerade aus Rumänien nach Deutschland gekommen ist, auch da nicht mitgehen wollen.
Ein Jahr später besucht Olivia selbstbewusst eine Regelklasse der Schule und nachmittags den Ballettunterricht. Rechnen kann sie prima, mit dem Sprechen hapert es manchmal noch. Olivia bewegt sich zwischen vier Sprachen und findet nicht immer die richtigen Worte. Auch das wird ihr bald gelingen, denn sie ist klug und lernt gerne. Jetzt erzählt sie auch manchmal von ihrem früheren Zuhause, der Trennungsschock ist weniger stark. Sie hat viel Unterstützung von den Lehrerinnen und Erzieherinnen erhalten und alle haben gemeinsam versucht, das Ankommen und Zurechtkommen zu erleichtern. Ihre Eltern wissen nicht Bescheid, wie es in einer deutschen Schule zugeht, auch sie sind auf die Hilfe der Schulmediatorin angewiesen, sie übersetzt und erklärt.
Seit September 2010 arbeiten zwei Schulmediatorinnen an einer Grundschule im Beusselkiez, einem der ärmsten Kieze in Berlin. Beide kommen aus Serbien, eine aus einer Romafamilie. Beide haben eine Mediatoren-Ausbildung bei der RAA Berlin gemacht. Eine von ihnen hat zusätzlich das RomMed-Zertifikat des Europarates. Beide sprechen mehrere Sprachen, eine dazu Romanes in mehreren Dialekten. So muss keiner mehr fürchten, nicht verstanden zu werden, selbst einem Vater, der einen polnischen Sinto-Dialekt spricht, wurde die Einladung zum Elternabend übersetzt. Seitdem die Mediatorinnen da sind, hat sich vieles an der Schule verändert.
Sie bemerkten, dass viele Kinder der Schule aus Romafamilien kommen. Zu vielen Familien konnte die Schule kaum einen Kontakt herstellen, die Kinder besuchten den Unterricht unregelmäßig, hatten die nötigen Materialien nicht dabei und oft gesundheitliche Probleme. Mit vielen Hausbesuchen erreichten die Mediatorinnen eine Veränderung. Die Kinder kommen regelmäßig und haben ihre Sachen dabei. Sie werden zum Arzt begleitet. Ebenso helfen die Mediatorinnen den Eltern bei Gängen zu den Ämtern, stellen den Kontakt zur Schule her und sorgen dafür, dass die Kinder das bekommen, was sie brauchen. Sie begleiten den Übergang auf die Oberschule und melden die Geschwisterkinder im Kindergarten an.
Wegen der Diskriminierung in den Heimatländern verleugnen viele ihre Herkunft. Die Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten in Deutschland und in Europa ist bis heute als nachwirkendes Trauma im Gedächtnis der Menschen verankert und erschwert erheblich einen vertrauensvollen Zugang zur deutschen Gesellschaft. Der für Generationen unterbrochene Zugang zu Bildung in Deutschland und den meisten europäischen Ländern bewirkt mangelnde Teilhabe, Armut und ein Leben am Rande der Gesellschaft. Die Flucht vor starker Diskriminierung und die Hoffnung auf ein besseres Leben ist der Grund, aus dem viele Familien ihre Heimat verlassen und in anderen Ländern ihr Glück versuchen. Analphabetismus ist dabei ein starkes Hindernis, eine Arbeit zu finden und eine Lebensgrundlage herzustellen. Desto wichtiger ist es für die Kinder, Bildung zu erwerben.
Die Einsicht in die Lage der Eltern und der sich verbessernde Kontakt steigerte die Akzeptanz der Familien in der Schule. Waren Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher vorher eher skeptisch gegen andere Sprachen als deutsch in der Schule, lernten sie jetzt den Wert von Mehrsprachigkeit und Übersetzungen schätzen. Außerdem bemerkten sie, dass die Zugehörigkeit zur gleichen Kultur ein ganz anderes Vertrauen schafft, als eine reine Übersetzung es könnte. Die Schule verstärkte die Bemühungen, Personal aus anderen Ländern zu gewinnen. Jetzt gibt es arabischen Unterricht im Ganztagesangebot und türkische Übersetzungen sind kein Problem mehr. Die ganze Schule hat erhebliche interkulturelle Kompetenz gewonnen. Dabei geht sie strikt und kompromisslos gegen gegenseitige Diskriminierungen durch die Kinder vor, was kein leichtes Unterfangen bei der Vielzahl der Nationalitäten ist.
Es gibt zwei Klassen für neuzugezogene Kinder ohne Deutschkenntnisse und da die Kinder durch die Mediatorinnen gut versorgt werden, werden besonders Romakinder aufgenommen.
Die Mediatorinnen wirken als Vorbilder. Die Kinder haben Freude am Lernen und erleben die Schule als bereicherndes Angebot. Die Kinder schaffen alle den Übergang in die Regelklassen. Sie finden sich im Kiez zurecht und besuchen die Freizeiteinrichtungen und Jugendklubs. Sie erleben sich als gleichberechtigt und anstatt ihre Herkunft zu verleugnen, könne sie wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler: „Ich bin Türkin oder ich bin Araber“ sagen: „Ich bin eine Romni, ich bin ein Rom“.
Damit erfüllt die Schule ihren demokratischen Auftrag, Chancengleichheit und Gerechtigkeit herzustellen und die Würde des Menschen zu wahren, in einer ganz besonderen Weise.
für Roma ist diese Form der Roma-Schulmediation, die auch andere neu zugezogene Schülerinnen und Schüler ohne Deutschkenntnisse unterstützt. Sie ist eingebettet in das Modellprojekt Ein Quadratkilometer Bildung in Berlin-Moabit, ein Kooperationsprojekt der Freudenberg Stiftung, der RAA Berlin und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Die Roma-Schulmediation ist nicht regelfinanziert sondern wird von der Freudenberg Stiftung getragen.
Die RAA Berlin unterstützt Schulen mit weiteren Mediatorinnen und Mediatoren, die jeweils an mehreren Schulen tätig sind und eine ambulante Unterstützung bieten. Das Modell der Mediatorinnen, die fest an einer Schule tätig sind, erweist sich als besonders erfolgreich durch die kontinuierliche Förderung der Kinder und die gute Zusammenarbeit mit dem Kollegium der Schule und den Bildungsinstitutionen im Quartier. Feste und bekannte Ansprechpartnerinnen sind auch ein Vorteil bei der Zusammenarbeit mit Ämtern und anderen Institutionen.
Die Familien, die im Projekt betreut werden, haben zum größten Teil nach zwei Jahren Fuß gefasst und kommen zunehmend alleine zurecht.