In seiner Studie setzt sich der amerikanische Historiker Jeffrey Herf mit der deutsch-deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah auseinander. Dabei thematisiert er Bruchlinien, Kontinuitäten und entscheidende Diskurse in der politischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Deutschland der Nachkriegszeit.
Hinter dem vereinten Deutschland liegen inzwischen fast siebzig Jahre der Auseinandersetzung, bzw. Nicht-Auseinandersetzung und der Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah. Jeffrey Herf, US-amerikanischer Historiker und Experte der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, hat bereits 1997 eine umfassende Studie vorgelegt, die sich der deutschen „Politik der Erinnerung“ der ersten Nachkriegsjahrzehnte widmet. Das erklärte Ziel Herfs ist es dabei, Versäumnisse, Fehleinschätzungen und -verhalten in beiden Teilen Deutschlands und der vereinten Bundesrepublik zu analysieren und durch die daraus resultierenden Erkenntnisse die Voraussetzungen für ein verantwortungsvolleres Handeln in Bezug auf die Erinnerung an die Shoah in Deutschland zu schaffen.
Im Zentrum der Studie Herfs stehen dabei nicht die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte, die eher en passant Eingang in die Publikation finden. Im Fokus steht stattdessen die persönliche Haltung und das Verhalten verschiedener Politiker, die nach 1945 im geteilten und später im vereinten Deutschland in unterschiedlichen Positionen auf der politischen Bühne in Erscheinung traten. Herf unternimmt den Versuch, die individuelle Einstellung der politischen Akteure in Bezug auf das nationalsozialistische Regime während der zwölf Jahre andauernden Diktatur abzubilden, und diese mit ihrer Position in erinnerungspolitischen Diskursen im Nachkriegsdeutschland in Bezug zu setzen. Dabei geht er auf jene Aspekte ein, die einen konkreten Einfluss auf das Verhalten der Protagonisten hatten und haben – individuelle Überzeugungen und Interessen, Ideologiedenken, Machtstreben und persönliche Erfahrungen und die aus diesem Grunde das öffentliche Erinnern und die politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah maßgeblich beeinflussten.
Im Mittelpunkt der Publikation stehen somit die zwölf Jahre des Nationalsozialismus, die Zeit der Nachkriegsbesatzung durch die alliierten Siegermächte und die Frühphase der beiden deutschen Staaten – letztere in erster Linie deshalb, weil sich in dieser Zeit bereits die Bruchlinien des Jahrzehnte andauernden geteilten deutsch-deutschen Erinnerns und Gedenkens herausbildeten.
Herf bemüht sich in seiner Studie nachzuzeichnen, welche Bedeutung NS-Aufarbeitung und öffentliche Erinnerung, bzw. Nicht-Erinnerung für die Etablierung von Demokratie und Diktatur nach 1945 hatten. Er verfolgt dabei vier Grundthesen bzw. -fragen, die er in der Einleitung formuliert und die bereits die Stoßrichtung der gesamten Publikation vorzeichnen. Der Grundtenor ist folgender: Im liberal-demokratischen Westdeutschland gab es – neben einigen Versuchen des Beschweigens von verschiedenen Seiten – eine rege Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit, mit der gleichzeitig eine lebendige Erinnerungskultur und die Bereitschaft zur Zahlung von Entschädigungen für die überlebenden Opfer einherging. In der kommunistischen Diktatur der DDR wurden hingegen nach einigen ersten, diskussions- und erinnerungsfreudigen Monaten jegliche Interessen und Bemühungen um ein öffentliches Erinnern, insbesondere an die Shoah, unterdrückt.
Entspricht auch die Einschätzung Herfs in Bezug auf die politische und gesellschaftliche Grundstimmung in den beiden deutschen Staaten in jenen Jahren der Realität, zeichnet er doch an einigen Stellen ein zu positives Bild auf der einen, und ein zu negatives Bild auf der anderen Seite. Die Bemerkung, es sei allein die Bundesrepublik gewesen, die „den Überlebenden des Holocaust finanzielle Wiedergutmachung anbot, enge Beziehungen zu Israel aufnahm, dem Holocaust einen herausragenden Platz im politischen Gedächtnis der Nation zuwies“ (S.12), kann insofern nur bedingt zugestimmt werden, als es oftmals die Opferverbände und Unterstützer/innen waren, die Entschädigungszahlungen oder eine juristische Aufarbeitung nachdrücklich einforderten und dabei häufig genug auf gesellschaftliche Widerstände stießen. Viele ehemalige Zwangsarbeiter/innen und Gefangene der Konzentrationslager warten bis heute auf eine Wiedergutmachung, und die Erinnerung an die Shoah nahm in vielen Phasen und Regionen der Bundesrepublik eben keinen herausragenden Platz im kulturellen Gedächtnis der Nation ein. Die Einschätzung Herfs bezüglich der Nicht-Erinnerung an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in der Gedenkkultur der DDR, kann hingegen als weitgehend zutreffend bezeichnet werden. Dennoch muss auch hier benannt werden, dass es gerade in der im Begriff des inneren Zerfalls stehenden DDR der späten 1980er- Jahre durchaus Bestrebungen gegeben hat, die nationale Erinnerungskultur und den Umgang mit den verschiedenen Opfergruppen, insbesondere der jüdischen, zu überdenken und neu zu gestalten; auch wenn mancher dieser späten Gesten ein funktionaler Charakter eigen gewesen sein mag.
Herf thematisiert in seiner Darstellung zwar auch die Haltung der verschiedenen politischen Akteure bezüglich der Themen Entnazifizierung, Strafverfolgung und (Anti-)Faschismus, setzt den Fokus jedoch auf die individuelle Behandlung der von Herf problematisierend als „jüdische Frage“ bezeichneten Thematik der Judenverfolgung und des überdauernden Antisemitismus.
Herfs Studie bildet trotz der angesprochenen Problematiken eine differenzierte und umfangreiche Darstellung der Kontinuitäten und Brüche in der politischen Gedenkkultur Deutschlands, unmittelbar vor und einige Jahrzehnte nach der Zäsur von 1945, also von den späten 1930er Jahren bis in die frühen 1990er Jahre. In unterschiedlichen Kapiteln widmet er sich dabei mehreren bedeutenden Politikern der Nachkriegszeit, neben Adenauer, Heuss, Reuter und Schumacher im Westen und Ulbricht, Pieck, Grotewohl und Merker im Osten auch noch andere, die die Geschicke der nachkriegsdeutschen Staaten aus verschiedenen Richtungen lenkten.
Die 557 Seiten umfassende Publikation bietet daher einen sehr detaillierten und multidimensionalen Einblick in die erinnerungspolitischen Diskurse auf dem politischen Parkett der Nachkriegsjahrzehnte. Aufgrund der komplexen Thematik eignet sich die Studie Herfs allerdings eher zur Vorbereitung auf eine Behandlung des Themas im Unterricht und weniger für eine direkte Nutzung der Inhalte für die Arbeit mit Jugendlichen.