Der Forschungsstand zum Ersten Weltkrieg ist zwar durch den hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs rasant angestiegen, doch bleibt er gegenüber der Forschung zum Zweiten Weltkrieg eher dünn. Gerd Krumeich betont in seinem Buch „Juli 1914. Eine Bilanz.“, dass sich die wichtige und differenziert verfasste Literatur seit 1930 kaum verändert habe, dort fänden sich die meisten vielsagenden Quellen, die jedoch inzwischen ideologisch ausgeschlachtet wurden. Dabei spielt insbesondere die Frage eine zentrale Rolle, wer letztendlich Schuld an dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte, welche diplomatische Beziehung entscheidend war, auf welchem Land bis heute die Kriegsschuld lastet.
Gerd Krumeich nimmt gegenüber dem traditionellen deutschen Geschichtsrevisionismus eine deutliche Position ein. Gleichzeitig wirkt sein Buch nicht ideologisch verklärt, sondern differenziert und scheut sich nicht davor Widersprüchlichkeiten, Ambivalenzen und die üblichen Lücken der Geschichte zu benennen. Christopher Clarks vielbeachtete „historische Schlafwandler“, womit er die in den Ersten Weltkrieg involvierten Staaten und deren politische Führungen meint, schlitterten sozusagen in eine Situation, die sie selbst nicht verstanden – und schließlich dadurch auch nicht so recht verantworten konnten. Hier wird die emotionale Ebene der Geschichte zur küchenpsychologischen Pathologiegeschichte: Angesichts von historisch bedingter Verwirrung, Verärgerung und aggressiver Impulse ist es demnach leicht nachvollziehbar, dass sich die Akteure in einen Krieg manövrierten – oder eher manövrieren ließen. Gert Krumeich hält dieser Verklärung einer Geschichtsschreibung, die Emotionen mit einbezieht, einen differenzierten Umgang mit der Bedeutung von Gefühlen in der Geschichte entgegen. Wenngleich der Aspekt des Einflusses von Gesellschaft in historische und politische Entwicklungen relativiert wird, finden sich bei Krumeich auf individualpsychologischer Ebene interessante Aspekte zum Verständnis führender politischer Persönlichkeiten. Damit wird ihr Handeln verstehbar gemacht ohne zu versuchen, sie damit für ihr Handeln zu entschuldigen. Zur differenzierteren Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang des Gesellschaftlichen und politisch-historischer Entwicklungen lässt sich die in der vorliegenden Ausgabe besprochene Video-Diskussion mit Isabel V. Hull und Ernst Pipe heranziehen.
Gerd Krumeich macht deutlich, dass es eine Art Hauptschuld für den Beginn des Ersten Weltkriegs gegeben hat. Diese liegt eindeutig beim Deutschen Reich, insbesondere bei dem Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke und dem damaligen Reichskanzler Bethmann Hollweg, mit deren Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen sich Krumeich in der Vergangenheit intensiv auseinandergesetzt hat.
„Juli 1914. Eine Bilanz“ von Gert Krumeich eignet sich insbesondere für Lehrer/innen, um sich einen differenzierten Einblick in die Entwicklungen hin zum Ersten Weltkrieg zu verschaffen. Gegenüber einem, an dem deutschen Bedürfnis nach Schulderlass orientierten, Geschichtsrevisionismus bietet sich dieses Fachbuch hervorragend dazu an, derlei Ansätze kritisch zu hinterfragen und fundierte Kenntnisse zu erlangen. Auch der direkte Einsatz im Unterricht in der Sek II ist mit diesem Buch möglich. So hängt ein umfangreicher Appendix an, dessen Lektüre durchaus empfehlenswert ist. Die politischen Debatten derzeit sind viel leichter sprachlich nachzuvollziehen, auch für Schüler/innen, als die gängige parlamentarische Sprache. Entsprechend können diese historischen Quellen direkt im Unterricht genutzt werden.
Außerdem bietet sich für den Einsatz im Unterricht das etwas weniger umfangreiche aber durchaus informative und inhaltlich fundierte Buch „Die 101 wichtigsten Fragen – Der Erste Weltkrieg“ von Gerd Krumeich an. Hier finden sich in knappen Worten wichtige historische Entwicklungen wieder, die in dieser Form auch für Jugendliche zugänglich sind.