Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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In der Region Dersim (der heutigen Region Tunceli) im Osten der Türkei wurden im Zuge der Türkisierungspolitik der Regierung Atatürks 1937/38 bis zu 70.000 Menschen ermordet, bis zu 50.000 in andere Landesteile deportiert, Dörfer zerstört und deren Bewohner vertrieben. Im Jahr 2011 entschuldigte sich die türkische Regierung für die Massaker 1937 / 38 und räumte 13.806 Todesopfer ein. Eine Aufarbeitung der Geschichte hat bis heute nicht stattgefunden, militärische und zivile Archive sind noch stets geschlossen.
Bis heute ist der Auswanderungsdruck auf die Bevölkerung durch eine massive Militärpräsenz, militärische Auseinandersetzungen, umstrittene Staudamm- und Tagebauprojekte enorm. Schon seit Beginn der Zuwanderung aus der Türkei in die europäischen Länder Anfang der 60er Jahre sind viele Dersimer/innen nach Europa gekommen, eine weitere große Auswanderungswelle folgte in den 80er-Jahren, als sich in der Region der Konflikt zwischen dem türkischen Militär und der PKK verschärfte. Es sind mittlerweile zahlreiche Vereine und Initiativen in Deutschland entstanden, mit dem Ziel, ihre Identität zu pflegen und sich mit den Menschen in ihrer Heimat zu solidarisieren.
Die Erfahrungen der Massaker von 1937/1938 wurden im Rahmen einer Seminarreihe aufgearbeitet, darunter mit einer Bildungsreise in die Dersim-Region (gefördert von der LzpB) und nach Berlin. Eine Spurensuche im eigenen Umfeld lieferte Beiträge und Geschichten für das historische Verständnis. Dabei stand ein sensibler, differenzierter und kritischer Umgang mit der Vergangenheit im Fokus. Ziel war es nicht nur die Geschichte zu reflektieren und über diese zu lernen, sondern Demokratielernen zu ermöglichen, für Menschenrechte zu sensibilisieren und sich mit Schuld oder Verantwortung als Lehre aus der Geschichte auseinanderzusetzen. Das Projekt wollte einen Dialog zwischen Gruppierungen schaffen, die der vernachlässigten Dersim-Geschichte mit unterschiedlichen Perspektiven gegenüber stehen. Ziel war es, durch einen gemeinsamen Dialog ein respektvolles und interkulturelles Zusammenleben in Deutschland zu fördern.
Insgesamt wurden zehn Veranstaltungen durchgeführt. Dazu gehörten fünf Wochenendseminare, eine zehntägige Reise in die Dersim-Region, ein fünftägiger Bildungsurlaub in Berlin sowie einer Auftakt-, Dialog- und Abschlussveranstaltung. Hierbei stand die politische und interkulturelle Seminararbeit, Biografiearbeit, Dokumentation von Oral History und von Erfahrungen und Erinnerungen von noch lebenden Zeitzeug/innen, Recherche im eigenen Umfeld und darüber hinaus (u.a. Familie, Bibliothek, Archiv) und die Nutzung digitaler Medien wie Blogs (http://dersimprojekt.wordpress.com) im Vordergrund, auf dem die Teilnehmenden über ihre Erkenntnisse berichteten.
Trotz mehrfacher Kontaktversuche und Einladungen ist es uns kaum gelungen, Teilnehmende aus der türkischen Community ohne Dersimer Wurzeln einzubinden und so den multiperspektivistischen Dialog zu fördern. Die Vorurteile innerhalb der Gruppierungen der türkischen Community sind offenbar immer noch zu groß. Die Auseinandersetzung mit umstrittener Geschichte wird in der Türkei und den hier lebenden Türkischstämmigen häufig auf einer sehr emotionalen Ebene geführt. Die Aufarbeitung des Dersim-Massakers in türkischen Gemeinden / Verbänden erscheint uns zur Vermeidung der Rolle als „Ankläger“, die eine Abwehrhaltung hervorrufen könnte, als eigenständiges Teilprojekt sinnvoll. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte einer Gruppierung innerhalb einer großen Community (Dersimer/innen ó Türk/innen) ist unseres Erachtens unbedingt fortzuführen, gerade auch im Hinblick auf die deutsche Öffentlichkeit, die „die Türken“ meist als eine geschlossene, religiös und ethnisch homogene Gruppe wahrnimmt. Die Darstellung der Konflikte in der Türkei und deren Auswirkungen bis heute am Beispiel der Dersim-Problematik dürfte zu einem größeren Verständnis für die Problematiken der Migrant/innen bei der aufnehmenden Gesellschaft führen.
Ein Reibungspunkt war die Zusammenarbeit Hauptamt (af) und Ehrenamt (Dersim-Gemeinde). Vieles, das ein Kooperationspartner als selbstverständlich voraussetzte, schien für den anderen erstmal ungewöhnlich. Zu den unterschiedlichen Erfahrungshintergründen mit Projektmanagement kamen auch Differenzen und Herausforderungen in der interkulturellen Verständigung und im Zeitmanagement, resultierend aus unterschiedlichen Arbeits- bzw. Projektzeiten. Zudem waren zu wenig verbindliche Absprachen schriftlich festgelegt. Auf beiden Seiten wechselten die Ansprechpartner*innen, so dass es sich zum Teil recht schwierig und aufwändig gestaltete, nachzuvollziehen, was mit wem verabredet wurde.
Ein Herzstück des Projekts war die Erstellung eines Dokumentarfilms über die Auswirkungen der Geschehnisse in Dersim auf die Menschen bis in die heutige Zeit. Für die Dokumentation in Form des Films „Dersim – auf den Spuren eines Völkermordes“ wurden acht Interviews bearbeitet, geschnitten und zum Teil untertitelt. Unter den Interviewten waren drei direkte Zeitzeug/innen aus der Dersim-Region, die zum Zeitpunkt der Massaker noch Kinder waren. Für die Dokumentation wurden die Interviews von einer Filmemacherin mit den Landschaftsaufnahmen dramaturgisch in Szene gesetzt, die im Rahmen der Bildungsreise in die Dersim-Region im Oktober 2011 entstanden sind. Das Resultat ist ein bewegender und eindrücklicher Film, der die Auswirkungen der Geschehnisse von 1937/38 bis auf die heutigen Generationen in beeindruckender und emotionaler Weise darstellt. Dieser Film ist zu beziehen über das aktuelle forum oder als Stream.
Auf das Thema des Projekts bezogen erlaubte es die intensive Beschäftigung den Teilnehmenden, ihre Forderungen, die sie aus ihrer Historie ableiten, neu zu überlegen und in ihrer Eindeutigkeit zu schärfen. Dazu gehört bspw. die Öffnung der Archive in der Türkei, um das Ausmaß der Tragödie besser umreißen zu können oder der Stopp des energiepolitisch umstrittenen Staudammprojektes im Nationalpark Munzurtal. Zudem ist bei den Teilnehmenden eine Stärkung ihrer Identität als „Dersimer/innen“ wahrzunehmen. Sie wurden sich ihrer Geschichte bewusster und konnten die Zusammenhänge eher einordnen, da sie – vielleicht zum ersten Mal – belegbare Informationen erwarben und sich nicht auf mündlich überlieferte Geschichte oder sich auf Informationen aus zweifelhaften Quellen verlassen mussten, bzw. diese in den historischen Kontext einfügen konnten.
Dies wurde besonders bei der Abschlussveranstaltung deutlich: Sehr berührend waren die Berichte zweier junger Männer, die sehr engagiert in der Dersim-Gemeinde sind und sich über ihre Herkunft definieren, das Land ihrer Vorfahren aber noch nie gesehen hatten. Die fundierte Wissensbasis über die Ereignisse in Dersim, die sie sich in den Seminaren aneignen konnten, halfen ihnen, die erzählte Familiengeschichte und ihre Eindrücke vor Ort in die historischen Kontexte einzuordnen.
Das Projekt „Dersim – Geschichte verstehen und Zukunft gestalten!“ wurde vom aktuellen forum nrw e.V. in Kooperation mit der Dersim-Gemeinde Rhein-Ruhr mit der Förderung der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (evz) von Januar 2011 bis Juni 2012 durchgeführt.