Die Entstehungsgeschichte des italienischen Faschismus ist gleichzeitig die Ursprungsgeschichte des europäischen Faschismus überhaupt. Denn was in dem südeuropäischen Staat nach dem Ersten Weltkrieg begann, stellte aus europäischer Perspektive ein historisches Novum dar, das sich von dort aus in den Folgejahren über den Kontinent verbreitete. Der italienische Faschismus muss daher im Kontext europäischer Geschichte als Wirkungsgeschichte beschrieben werden, deren Ursprung in der besonderen Situation Italiens Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begründet liegt.
Der Band des emeritierten Geschichtsprofessors Wolfgang Schieder erschien 2010 in der Beck'schen Reihe. Er zeichnet die Entstehungsgeschichte des italienischen Faschismus detailliert nach. Schieder unterteilt den Wirkungszeitraum des Faschismus dafür in verschiedene Phasen. Dadurch vermeidet er die Darstellung des Faschismus in Italien als starres politisches System und beschreibt seine Entwicklung stattdessen als historischen Prozess, in dem sich die formalen Bedingungen mehrfach veränderten: Entstanden aus einer Phase der „Bewegung“, entwickelte sich der Faschismus ab 1919 zu einer Massenorganisation, die schließlich mehr als zwanzig Jahre als diktatorisches System Italien beherrschen sollte. Schieder hebt dabei stets das ursprüngliche Selbstverständnis des italienischen Faschismus als „Bewegung“ hervor, der die Vorstellung einer ständigen Mobilisierung zu Grunde lag. Die im Kern vergleichsweise wenig ideologisierte, praxisorientierte Handlungsweise setzte eine permanente Unterdrückung der politischen Gegner voraus. In der Betrachtung des vermeintlichen Massenkonsenses der italienischen Bevölkerung muss diese repressive Atmosphäre ebenso mitgedacht werden, wie die propagandistisch aufgeladenen Selbstinszenierungen des „Duce“. Der Autor warnt in diesem Zusammenhang vor einer unkritischen Einordnung des italienischen Faschismus unter der Kategorie „charismatische Führerschaft“.
Um die Entstehungsbedingungen des Faschismus in Italien nachzuvollziehen, muss der Blick auf die italienische Nachkriegssituation gewendet werden. Eine kumulative Krisensituation auf parlamentarischer, nationalstaatlicher und industrieller Ebene führte in der Zwischenkriegszeit zu einer im europäischen Vergleich widersprüchlichen Regimebildung: Mitglieder der systemfeindlichen faschistischen Bewegung verbanden sich mit der politischen Elite des Landes und erreichten so die Durchsetzung eines faschistischen Diktaturregimes. In anderen europäischen Ländern fußte die Entstehung diktatorischer Herrschaftssysteme in der Zwischenkriegszeit hingegen auf der alleinigen Machtbündelung traditioneller Herrschaftseliten des jeweiligen Landes.
Bereits die Gründung des ersten italienischen Kampfbundes im März 1919, aus dem in der Folgezeit der landesweit regierende Faschismus hervorging, war eng mit der Person Mussolini verbunden. Der spätere Diktator, der zu Beginn seiner politischen Karriere Mitglied der sozialistischen Arbeiterbewegung war, zeichnete sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt durch jene Eigenschaft aus, die später sein persönliches Mittel zur Machtakkumulierung und -erhaltung werden sollte: Mussolini war politisch selten irreversibel festgelegt, seine ideologische Wendigkeit veranlasste ihn häufig zu radikalen Kurskorrekturen.
Als Nährboden diente der faschistischen Bewegung Anfang der 1920er Jahre neben der eigenen politischen Wandlungsfähigkeit auch die Gespaltenheit der sozialistischen Regierung. Die Arbeiter/innen verloren allmählich das Vertrauen in die Parteisozialisten, während sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Angst vor einer „roten Gefahr“ breitmachte und sich der Faschismus – als Verbindung aus dem städtischem Ursprungsfaschismus und dem neueren Agrarfaschismus (Squadrismus) – nach und nach zu einer rechtsextremen Massenbewegung entwickelte.
In den folgenden Jahren entwickelte sich der Faschismus von einer ursprünglich paramilitärischen Bewegung zu einer regierungsfähigen Partei. Innerhalb dieses Prozesses konnte Mussolini mit Hilfe einer ihm eigenen Doppelstrategie stetig seine Macht ausbauen: Indem er auf parlamentarischer Ebene beständig mit einem faschistischen Staatsstreich drohte, gelang es ihm, seine Machtposition im Rahmen des bestehenden Gesetzes zu konsolidieren, 1922 die Regierung zu bilden und diese allmählich in ein diktatorisches Regime umzuwandeln. Der „Marsch auf Rom“, die Änderung des Wahlrechts 1924 und die Überwindung der durch den Mord an dem Sozialisten Matteotti hervorgerufene Krise 1925 sind nur einige Beispiele für den überwältigenden Machtwillen und die Inszenierungsfähigkeit Mussolinis. Schieder erläutert die Entwicklungen der 1920er Jahre ausführlich, jedoch ohne dabei auszuufern.
Den Zeitraum 1929 bis 1943 behandelt Schieder in jeweils kurzen phasen- und themenbezogenen Blöcken. Der Beschreibung der Entwicklungen in den 1930er Jahren hin zu antisemitischen Gesetzgebungen, der Organisation eines Großteils der Bevölkerung in faschistischen Strukturen und der Entstehung der deutsch-italienischen Achse und des „Duce“-Mythos stellt der Autor einige ideologieanalytische Überlegungen voran. Dabei attestiert er dem Faschismus in Italien zwar durchaus eine ideologische Dimension, zweifelt jedoch an dem Vorhandensein eines statischen ideologischen Programms. Schieder wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob in Bezug auf den italienischen Faschismus „statt von einem geschlossenen System nicht eher von einem heterogenen ideologischen Komplex gesprochen werden muss.“ (S.58) Die politische Unstetigkeit Mussolinis kann aus dieser Perspektive als Ausdruck einer populistischen und tendenziell ideologiefernen Grundeinstellung verstanden werden.
Abschließend wendet Schieder den Blick auf das Nachkriegsitalien und seine gesellschaftliche, justizielle und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner faschistischen Tradition. Dabei benennt er neben der allgemeinen Tradierung des Faschismus im Geschichtsbewusstsein der italienischen Mehrheitsgesellschaft auch Kontroversen und Prozesse, die sich gegen eine Instrumentalisierung oder Verleugnung der faschistischen Vergangenheit stellten und stellen.
Insgesamt bietet der Band einen informativen Überblick über das Phänomen des Faschismus, der von Lehrer/innen ideal zur Einarbeitung in das Thema genutzt werden kann.
Schieder, Wolfgang: Der italienische Faschismus. Verlag C.H. Beck, München 2010. 128 Seiten. 8,95 Euro. ISBN: 978 3 406 60766 0