Es ist eine Einladung, das Thema aus einer neuen und ungewohnten Perspektive zu betrachten: Mit dem Buch „Wohnen für alle – Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus“ wagt Robert Liebscher einen Blick auf die Welt der „Platte“, der sich der gängigen DDR-zentristischen Darstellung entzieht und die Betonbauten in einen weiter gefassten – historischen und geographischen – Kontext setzt.
Die Geschichte der „Platte“ beginnt hier daher nicht erst mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, sondern bereits im 12. Jahrhundert, als in Japan zerlegbare Holzhäuser eine praktische Unterkunft für Wanderer boten. Liebscher stellt die „Platte“, wie Jugendliche sie heute von alten DDR-Postkarten und aus einigen Ostdeutschen Vorstädten kennen, in eine Tradition mit vormontierten und wieder zerlegbaren Bauten in aller Welt, die im Laufe der Jahrhunderte von architektonischem Pioniergeist und sozialem Denken einerseits, aber auch von ökonomischen Interessen andererseits zeugten. Epochale Entwicklungen werden dabei in einen politischen und sozialen Kontext gesetzt, der durch historische Prozesse wie Kolonialisierung und Industrialisierung geprägt und von den daraus resultierenden Umständen wie Wohnungsknappheit und kriegswirtschaftlichen Maßnahmen geleitet wurde.
Neben einer historischen Darstellung der Entwicklung einer modernen Modulbauweise unter Berücksichtung politischer und sozialer Aspekte, widmet sich Liebscher außerdem der Auseinandersetzung mit dem „richtigen“ Baustoff. Er beschreibt einen regelrechten Wettkampf zwischen Beton- und Stahlbauweise, der von Rüstungsproduktion und Marktsituation auf der einen, und dem ästhetischen Empfinden der jeweiligen Epoche auf der anderen Seite beeinflusst war.
Nachdem im Anschluss an den Ersten Weltkrieg ein allgemeiner Stahlmangel den Rohstoff immer kostbarer werden ließ, eroberte nach und nach die billigere Betonbauweise den europäischen Markt – während beispielsweise in den USA Stahl weiterhin das Bauwesen dominierte. In der Zwischenkriegszeit gewann in Deutschland und in anderen europäischen Ländern auch der soziale Wohnungsbau an Bedeutung, durch neu gebaute „Mietskasernen“ sollte das weit verbreitete Problem der Wohnungsknappheit gelöst und eine Funktionalisierung und Hygienisierung des Wohnens eingeleitet werden. Liebscher begibt sich in seiner Darstellung der 1920er Jahre auf einen Streifzug durch die Projekte und Persönlichkeiten des „Neuen Bauens“. Neben den Größen Walter Gropius und Le Corbusier finden auch Mies van der Rohe, Ernst May und andere Architekten des „Bauhaus“ Erwähnung. Die darauf folgende Zeit des Nationalsozialismus wird hingehen nur gestreift. Während gigantomane Wohnungsbauprojekte das ideologische Konzept des „Lebensraumes im Osten“ begleiteten, gelangten viele der Konzepte im Endeffekt nicht vom Reisbrett zur tatsächlichen Umsetzung.
Den Folgen der Zerstörung versuchte man nach 1945 schließlich durch den Bau von Großsiedlungen in Plattenbauweise zu begegnen. Nicht nur in den durch die Sowjetunion beherrschten Teilen Europas, sondern auch in westlichen Ländern wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden entstanden so Trabantenstädte rund um die alten Stadtkerne der Großstädte. In Deutschland führte der aufkeimende „Kalte Krieg“ spätestens ab 1948 zu einer separierten Wohnungspolitik in Ost und West. In der DDR kam dem Plattenbaukonzept eine grundlegende Bedeutung zu: „Die ‚Industrialisierung des Bauens’ im Plattenbau wurde als eine der entscheidenden Etappen in der Entwicklung hin zum Sozialismus stilisiert“ (S.64) Welche Institutionen und Funktionsträger sich diesem Ansinnen im Laufe der Jahrzehnte widmeten, wird von Liebscher in dem umfangreichsten Teil des Bandes nachgezeichnet. Dabei geht er sowohl auf die spezifischen Eigenheiten der „Platte“, als auch auf statistische Dimensionen und wirtschaftliche Aspekte des realsozialistischen Bauens ein. Das Kapitel „Alltag in der Platte“ widmet sich schließlich dem alltäglichen Lebens- und Erfahrungshorizont der Plattenbaubewohner/innen. Liebscher ist hierbei in zweierlei Hinsicht Experte – der Historiker ist selbst in einer „Platte“ aufgewachsen.
Am Ende des Bandes lässt der Autor seinen Blick schließlich über die von Leerstand und Zerfall geprägten Plattenbausiedlungen der Wendezeit schweifen. Angenehm reflektiert berichtet er von Demontagen, Modernisierungen und „Recyclingprojekten“ – und verzichtet dabei auf sentimentale oder verteufelnde Zuschreibungen. Seine Überlegungen enden schließlich mit der Frage, „welche Rolle der Plattenbau im 21. Jahrhundert angesichts der wachsenden Weltbevölkerung spielen [wird]“. (S.134)
Liebschers Streifzug durch die Geschichte des modularen Wohnungsbaus bietet eine hervorragende Möglichkeit, Schüler/innen in Eigenarbeit mit dem Thema „Wohnen“ vertraut zu machen. Eine einfache und unakademische Sprache ermöglicht den selbstständigen Zugang zur Publikation. Auch Format und Design entsprechen dem ästhetischen Empfinden heutiger Jugendlicher, zahlreiche Abbildungen runden die jeweiligen Kapitel ab. Aufgrund der Themenfülle und des geringen Umfangs der Publikation, werden viele der Themen und behandelten Epochen nur gestreift, dennoch bietet sich dem/der Leser/in ein außergewöhnlich vielseitiges Bild von der „Platte“.
Robert Liebscher: Wohnen für alle. Eine Kulturgeschichte des Plattenbaus. Vergangheitsverlag, Berlin, 2009. 175 Seiten. 12,90 Euro.