Sucht man nach dem Wort „Vergangenheitsbewältigung“ in irgendeiner anderen Sprache dieser Welt, wird man schnell feststellen müssen, dass es in den meisten Sprachen mindestens einer Hand voll Wörter bedarf, um das gemeinte wiederzugeben. Diese Feststellung führt nicht zwangsläufig zu einer tieferen Erkenntnis. Dennoch illustriert sie das Bild, das spätestens seit den frühen 1990er Jahren international von Deutschland gezeichnet wird. Deutschland gilt als „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ (Péter Esterházy), sowohl im Ringen um die Aufarbeitung der NS-Diktatur als auch im Umgang mit seiner DDR-Vergangenheit.
Dadurch kommt Deutschland im internationalen Austausch eine immer größere Bedeutung zu, die zu einer Orientierung verschiedener europäischer Staaten mit Diktaturvergangenheit an deutschen Aufarbeitungsprozessen führt. Ob in diesem Zusammenhang gar von einer deutschen „DIN-Norm“ der Vergangenheitsbewältigung gesprochen werden kann, wird in dem vorliegenden Band anhand verschiedener, multiperspektivischer Standpunkte besprochen. Die Publikation wurde von Kathrin Hammerstein, Ulrich Mählert, Julie Trappe und Edgar Wolfrum als Dokumentation einer Tagung herausgegeben, die im September 2007 vom Graduiertenkolleg „Diktaturüberwindung und Zivilgesellschaft in Europa“ der Universität Heidelberg veranstaltet wurde.
Im Zentrum des Bandes steht neben einer Verortung Deutschlands innerhalb der internationalen Aufarbeitungspolitik auch eine Analyse aktueller europäischer Entwicklungen. Dabei werden sowohl Tendenzen einer „Internationalisierung der Verantwortung“ und Beispiele staatlicher Normierungen (z.B. in Frankreich) angesprochen, als auch bestehende Asymmetrien und Konflikte in Aufarbeitungsprozessen, vor allem zwischen west- und osteuropäischen Ländern thematisiert. Die „Konkurrenz der Erinnerungen“ wird von den Herausgeber/innen dabei ebenso kritisiert, wie eine unkritische Übernahme von Handlungskonzepten zur eigenen Dikaturaufarbeitung eines jeweiligen Landes. Die Problematik eines solchen Vorgehens liegt – so die Autor/innen – in einer dadurch evozierten Alibi-Funktion des Aufarbeitungsprozesses, die einer wirklichen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ausweicht.
Im ersten Teil des Bandes geben verschiedene Autoren Einblick in die Beschaffenheit deutscher Aufarbeitungsprozesse, die geprägt sind durch das Merkmal einer doppelten Diktaturerfahrung. Während Christoph Cornelissen und Bernd Faulenbach den „Sonderweg“ (Cornelissen) Deutschlands und die Bedeutung politischer und sozialer Rahmenbedingungen bei der Aufarbeitung herausarbeiten, unterstreicht Michael Beleites die Wichtigkeit einer Unterscheidung beider deutscher Diktaturen, auf deren Grundlage er eine miteinander verbundene Aufarbeitung erst für möglich hält. Alfons Kenkmann macht in seinem Beitrag, in dem er die Gedenkstättenlandschaften in Berlin und NRW miteinander vergleicht, auf die Nachteile einer Normierung von Gedenkkonzepten durch die Entscheidungsträger aufmerksam.
Der zweite Teil der Publikation geht der Frage nach, inwiefern man von einer bestehenden DIN-Norm der Diktaturaufarbeitung sprechen kann. Micha Brumlik untersucht in seinem Beitrag die pädagogischen Lernziele und -Erfolge, die im Zuge der Holocaust-Aufarbeitung in Deutschland zu verzeichnen sind. Eine Analyse polnischer Aufarbeitungsprozesse nehmen Dorota Dakowska und Claudia Kraft vor – Während Dakowska anhand der Aufarbeitungsbehörden IPN (Polen) und BStU (Deutschland) einen deutsch-polnischen Vergleich anstrebt, stellt Kraft sowohl polnische als auch spanische Verdrängungstendenzen dar, die sich im „pacto de silencio“ (Pakt des Schweigens) und der „gruba kreska“ (dicker Strich) widerspiegeln. Ulrike Jureit kritisiert in ihrem Beitrag die „Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur“. Die Ausgrenzung der Täter führe nicht selten zu einer Negierung der eigenen Verantwortung, und der stetige Ruf nach Betroffenheit verhindere eine kritische Distanz zu dem Thema.
Im Zentrum des dritten Teiles stehen die „Akteure der Aufarbeitung“. Juliane Trappe führt in ihrem Beitrag in „die Standards der strafrechtlichen Vergangenheitsaufarbeitung in Europa“ ein. Sie verweist hierbei auf die Problematik des Zusammenpralls internationaler und nationaler Rechtsprechung. Koffi Kumelio A. Afande stellt die Arbeit der Untersuchungskommissionen vor, die als vorgelagerte Institution internationale Verfahren gegen Kriegsverbrecher (Ruanda, Jugoslawien) vorbereiten. Christine Axer und Xosé-Manoel Núñez lenken den Blick auf internationale Erinnerungsdiskurse. Während Axer die Bedeutung der lois mémorielles („Erinnerungsgesetze“) in Frankreich untersucht, setzt sich Núñez mit den Entwicklungen in Spanien auseinander.
Der vierte Teil der Publikation verknüpft verschiedene nationale Erkenntnisse zu einem gesamteuropäischen Bild. Michael Weigl stellt anhand eines ost-/westeuropäischen Vergleiches fest, dass die Vergangenheitsaufarbeitung noch nicht zu einem gesamteuropäischen Phänomen geworden ist. Kathrin Hammerstein und Birgit Hoffmann stellen eine Untersuchung von Resolutionen und Initiativen zur Diktaturaufarbeitung in verschiedenen europäischen Ländern an. Jens Kroh und Milan Horáček analysieren den europäischen Umgang mit länderspezifischen Aufarbeitungskonzepten. Kroh setzt dabei einen Schwerpunkt auf die diplomatischen Maßnahmen gegen Österreich in Verbindung mit der Stockholmer „Holocaust-Konferenz“ im Jahr 2000 und Horáček plädiert am Beispiel Tschechiens für eine gesamteuropäische Verständigung bei der Geschichtsaufarbeitung.
Der letzte Teil des Bandes richtet seinen Fokus auf die gesamteuropäische Gedächtniskultur. Stefan Troebst evaluiert die Bedeutung von „1945“ als europäischen Erinnerungsort und die Möglichkeiten seiner Verwendung als Gegenstand eines diskursiven Austauschs. Regina Fritz und Katja Wezel stellen mit dem „Haus des Terrors“ in Budapest und dem lettischen Okkupationsmuseum zwei Erinnerungsorte vor, an denen die Zeit des Kommunismus deutlich stärker im Vordergrund steht als die Zeit des Nationalsozialismus. Auch Anna Kaminsky beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Orten in Osteuropa, an denen den Opfern der kommunistischen Regime gedacht wird. Sie verweist darauf, dass vor allem die Kontextualisierung der Orte und ihrer Geschichte von großer Bedeutung ist. Burkhard Olschowsky gibt abschließend einen Einblick in die Erinnerung an „Flucht und Vertreibung aus deutscher und polnischer Perspektive“.
Insgesamt handelt es sich bei dem Band um einen umfangreichen und wertvollen Beitrag zu internationalen Diskursen, die die Aufarbeitung der verschiedenen Diktaturen betreffen. Die Beiträge bieten einen vielschichtigen und kritischen Blick auf Normierungsprozesse der Vergangenheitsaufarbeitung und fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen einer anhaltenden Internationalisierung. Die Publikation stellt somit einen gelungenen Versuch dar, nationale und internationale Aufarbeitungsprozesse zu analysieren und miteinander in Verbindung zusetzen.
Ein Wermutstropfen bleibt dennoch: Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine deutsche Publikation, die in erster Linie Beiträge von deutschen Autor/innen vereint. Wenngleich zwar auf verschiedene Weise ein multiperspektivischer Blick auf die europäische Erinnerungs- und Aufarbeitungskultur eröffnet werden soll, so scheinen Ausgangspunkt und Maßstab dennoch nach wie vor im deutschen Modell zu liegen. Es wäre daher durchaus interessant gewesen, einen durch internationale Historiker/innen angeregten Blick auf Deutschland zu wagen und die perspektivische Basis nach außen zu verlagern.