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Das Projekt history maps online erprobte die Erstellung und Präsentation digitaler Karten in der Gedenkstättenpädagogik. Ziel des Modellprojektes war nicht allein die Motivierung der Teilnehmenden durch eine attraktive Form der Online-Präsentation von Seminarergebnissen. Vielmehr noch sollte der historische Ort als Lerngegenstand im Mittelpunkt stehen und die Arbeit mit dem Medium den Bildungsprozess selbst befördern. Zwischen März und Juli 2013 wurde das Projekt history maps online von den Pädagogischen Diensten der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen in Kooperation mit der Agentur für Bildung – Geschichte Politik und Medien e.V. durchgeführt und von der Brandenburgischen Landeszentrale für Politische Bildung gefördert. In drei in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte „Haus Szczypiorski“ veranstalteten mehrtägigen Seminaren für unterschiedliche Zielgruppen wurden von den Teilnehmenden Online-Karten zu verschiedenen Themenschwerpunkten erarbeitet und in ein Weblog eingebunden.
In diesem Seminar beschäftigten sich Jugendliche aus der Region Oberhavel an vier Tagen mit den Beziehungen zwischen der Stadt Oranienburg und den Konzentrationslagern Oranienburg und Sachsenhausen. Zu Beginn lernten sie die Gedenkstätte Sachsenhausen kennen und erhielten einen Einblick in die Geschichte Oranienburgs in den 1930er Jahren. Nach einer Einführung in den Umgang mit historischen Quellen erarbeiteten sie in Kleingruppen verschiedene Aspekte des Themas. Im Mittelpunkt stand jeweils die Frage, welche Beziehungen es zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen der Stadt Oranienburg und den Konzentrationslagern gab. Was konnte die Bevölkerung darüber wissen und wie verhielt sie sich angesichts der in ihrer Nachbarschaft verübten Verbrechen?
Bei den vorbereiteten Materialien lag der didaktische Fokus weniger auf Kontroversität als auf Multiperspektivität. Die Jugendlichen arbeiteten mit Überlebenden- und Zeitzeugenberichten, historischen Pressemeldungen, Karten, Zeichnungen, Prozessakten und wissenschaftlicher Literatur. Die Aufgabe, Ergebnisse der Quellenarbeit in einen kurzen informativen Text zu formen, forderte die narrativen Kompetenzen der Teilnehmenden zum Teil stark heraus. Im Gegensatz zu einer mündlichen Präsentationsform ermöglichte die schriftliche Fixierung der Ergebnisse sehr intensive Diskussionen über Formulierungen, Inhalte und Deutungen. Den Jugendlichen wurde zudem bewusst, dass ihre Texte öffentlich online gestellt werden sollten. Wie kann Geschichte also verständlich erzählt werden? Können ihre Aussagen mit Quellen belegt werden? Bei der intensiven Überarbeitung der Texte entstanden immer wieder inhaltliche Diskussionen und neue Fragen an das Thema.
Die in Gruppenarbeit verfassten Texte wurden anschließend in eine digitale Karte integriert und in einem Blog präsentiert. Die Jugendlichen lokalisierten die beschriebenen historischen Ereignisse mithilfe von Ortsmarken in einer Google Maps-Karte. Die verschiedenen Orte repräsentieren verschiedene Aspekte des Themas und unterschiedliche historische Perspektiven. Die Arbeit mit der digitalen Karte ermöglichte den Lernenden durch die Beschäftigung mit räumlichen Aspekten der KZ-Geschichte auch darüber hinausgehende Erkenntnisse. Eine Gruppe, die sich mit dem Thema Zwangsarbeit in Oranienburg beschäftigte, erstellte eine eigene Karte. Auf dieser markierten sie ehemalige Zwangsarbeitsstätten in der Stadt. Bereits deren große Anzahl ließ die Jugendlichen über die Präsenz von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern im Alltag der Stadtbevölkerung nachdenken. Die Teilnehmenden diskutierten außerdem, wie die Wahl der verschiedenen Lagerstandorte – direkt in der Stadt und am Rande Oranienburgs – Gewalt jeweils unterschiedlich öffentlich machte. Anhand der Betrachtung des Raumes wurden so auch zeitliche Entwicklungen der Funktion der Konzentrationslager in der NS-Gesellschaft und in der NS-Propaganda deutlich.
Da die recherchierten Aspekte der Geschichte nicht auf einer historischen, sondern auf einer zeitgenössischen Karte verortet wurden, stellte sich in dem Projekt auch die Frage, was an den Orten heute noch an deren Geschichte erinnert. Die Jugendlichen erkundeten diese und zeigten in kurzen Handyvideos, wie sie die Orte vorgefunden haben und welche Spuren oder Erinnerungszeichen gegebenenfalls noch zu finden sind. Dabei stellten sie auch Überlegungen zum heutigen Umgang mit der Geschichte an. Die Videos wurden ebenfalls in die Karte eingefügt und werden sichtbar, wenn eine Ortsmarke in der Karte angeklickt wird. Dort findet sich auch der Link zu dem Text über die Geschichte des Ortes im Weblog.
Die Ergebnisse der einzelnen Kleingruppen wurden am Ende des Seminars in einer Präsentation und einer Übung zusammengeführt, in der sich die Jugendlichen zu verschiedenen übergreifenden Fragen positionieren sollten. Dabei wurden nochmals die von den Gruppen erarbeiteten unterschiedlichen Antwortmöglichkeiten auf die Fragen nach dem Wissen und Verhalten der Bevölkerung Oranienburgs diskutiert.
Bei diesem dreitägigen Seminar zum Thema „Topografie und Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen“ stand der historische Ort des ehemaligen Häftlingslagers des KZ Sachsenhausen im Mittelpunkt. Dabei gab es keine übergreifende Fragestellung. Vielmehr beschäftigten sich die Teilnehmenden mit verschiedenen Aspekten der Geschichte des Konzentrationslagers, wie zum Beispiel mit dem Alltag und den Existenzbedingungen der Häftlinge, der Zwangsarbeit im Klinkerwerk, der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener 1941 sowie mit den infolge des Novemberpogroms inhaftierten jüdischen Häftlingen.
Neben Quellen nutzen sie die Ausstellungen der Gedenkstätte, um sich die einzelnen Themen anzueignen. Auch die Auseinandersetzung mit den konkreten Orten, d.h. die Frage, wie diese erinnert werden und heute erhalten sind, bildete einen Schwerpunkt des Seminars. So verglichen sie die heutigen Orte in der Gedenkstätte mit historischen Fotografien der SS, alliierten Luftbildern und Häftlingszeichnungen. Die Aufgabe, den gegenwärtigen Ort und die Bildquelle in einem Foto gegenüberzustellen, forderte sie heraus, nach konkreten Spuren im Gelände zu suchen. Die Fotografien und Zeichnungen dienten ihnen so als historische Quelle und nicht nur als Veranschaulichung der Geschichte. Die Bedeutung verschiedener Bild-Perspektiven wurde genauso diskutiert wie der Umgang mit fehlenden baulichen Überresten bzw. bildlichen Überlieferungen. Die Jugendlichen fanden verschiedene Wege, ihre Überlegungen fotografisch festzuhalten, indem sie zum Beispiel mehrere Perspektiven abbildeten oder fehlende Bilddokumente mit einem weißen Blatt Papier symbolisierten.
Ihre Fotos verorteten sie in einer Google Maps-Karte. In einem jeweils verlinkten Text beschrieben sie die selbst erarbeitete Geschichte des fotografierten Ortes. Die Jugendlichen waren älter als die Teilnehmenden des ersten Seminars und die Arbeit mit historischen Quellen und das Verfassen der Texte fielen ihnen etwas leichter. So produzierten sie längere und komplexere Texte, in denen sie auch historische Entwicklungen darstellten. Die Texte erhielten so eine Multiperspektivität, die nicht nur durch unterschiedliche Quellen und Zeitzeugenberichte geprägt ist, sondern auch verschiedene Phasen der Lager- und Verfolgungsgeschichte aufzeigt.
An diesem Seminar nahm eine Gruppe junger Erwachsener aus der ganzen Welt teil. Besonders unterschiedliches Vorwissen und verschiedene persönliche Bezüge zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Verfolgung stellten eine Herausforderung für das gemeinsame Lernen dar. Zu Beginn des fünftägigen, englischsprachigen Seminars war daher die Reflexion der eigenen Sicht auf die NS-Geschichte in einer Übung wichtig und hilfreich, um grundsätzliche Fragen zu klären.
In kleinen Gruppen recherchierten die Teilnehmenden sieben verschiedene Biografien ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Diese stammten aus verschiedenen Ländern, wurden aus unterschiedlichen Gründen zu verschiedenen Zeiten verfolgt und verhaftet und mussten anders geartete Erfahrungen im Lager machen. Einige haben den Krieg überlebt und konnten selbst über das Erlebte berichten, andere waren im Konzentrationslager zu Tode gekommen. Ihr Leben war entweder gut dokumentiert und wurde öffentlich erinnert oder konnte nur anhand von Täter-Akten rekonstruiert werden.
Die Teilnehmenden recherchierten sehr motiviert in vorbereiteten Materialien, in den Ausstellungen, der Bibliothek und im Archiv der Gedenkstätte sowie im Internet. Das Leben der ehemaligen Inhaftierten beschrieben sie in einem ausführlichen Text, der im Blog veröffentlicht wurde. Um die zeitlichen Abläufe hervorzuheben, fertigten sie außerdem einen Zeitstrahl an. In einer Google Maps-Karte zeigten sie die verschiedenen räumlichen Stationen im Leben der verfolgten Menschen auf. Dabei wurde deutlich, wie diese bedingt durch Verfolgung, Krieg und Flucht teilweise weite Wege zurücklegen mussten und in verschiedene Lager und Länder verschleppt wurden.
Die europäische Dimension der Verfolgung wurde insbesondere in einer von den Teilnehmenden zusätzlich erstellten Karte deutlich, in der sie die Lebenswege aller Personen gemeinsam dokumentierten. Der Vergleich der Biografien eröffnete Fragen nach der Organisation der sogenannten Häftlingsgesellschaft, nach Privilegien und Benachteiligung einzelner Häftlingsgruppen, aber auch nach unterschiedlichen Formen des Umgangs mit den Verfolgungserfahrungen. Insbesondere die Möglichkeit, individuelle und persönliche Geschichten kennenzulernen, empfanden die Teilnehmenden als wertvoll. Dennoch lernten sie nicht nur die Perspektive eines ehemaligen Häftlings kennen, sondern erhielten einen Eindruck von der Vielfalt der Erfahrungen und Geschichten.
Die Veröffentlichung der Seminarergebnisse im Internet verleiht diesen – auch in den Augen der Seminarteilnehmenden – eine besondere Bedeutung und Relevanz. Dies zeigte sich beispielsweise an der Motivation der Jugendlichen während der ausführlichen Recherchen, Besprechungen und Überarbeitungen ihrer Texte, aber auch während des Videodrehs und des Fotografierens. Insbesondere die älteren Teilnehmenden schätzten die Möglichkeit, selbständig zu arbeiten und bewerteten die öffentliche Präsentation als ein „Ergebnis mit Sinn“. Außenstehende können die Einträge nicht nur lesen, sondern auch kommentieren. So gab beispielsweise der Oranienburger Bürgermeister Hans Joachim Laesicke den Jugendlichen eine anerkennende Rückmeldung. Auch durch die Auseinandersetzung mit möglichen kritischen Kommentaren können die Seminarteilnehmenden lernen, sich an einem öffentlichen Geschichtsdiskurs zu beteiligen. Das Projekt history maps online ermöglicht somit auch eine Handlungsorientierung historischen Lernens.
Die Ergebnisse aller drei Seminare des Projekts sind unter http://sachsenhausenprojekte.wordpress.com einsehbar. Ähnliche Seminare können in Zukunft auch zu weiteren Themen in der Gedenkstätte Sachsenhausen durchgeführt werden. Bei Interesse kontaktieren Sie bitte den Besucherdienst unter besucherdienst [at] gedenkstaette-sachsenhausen [dot] de.