Ein Volk, ein Reich, ein Trümmerhaufen. Der Schlachtruf der Edelweißpiraten, der der nationalsozialistischen Losung „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ entlehnt und entsprechend persifliert wurde, gibt eine Vorstellung über den Schauplatz, in dem Jugendliche während des Nationalsozialismus aufwuchsen. Die viel beschworene „Volksgemeinschaft“ bedeutete für viele Identifikation mit nationalsozialistischen Ideologien, für andere Unterdrückung und Verfolgung, für manche persönliche Ablehnung und den Willen zum Widerstand. In dem jüngst im Arena-Verlag erschienenen Buch „Ein Volk, ein Reich, ein Trümmerhaufen. Alltag, Widerstand und Verfolgung – Jugendliche im Nationalsozialismus“ gibt Anja Tuckermann einen Einblick in die Lebensrealität sehr verschiedener Jugendlicher, die zwischen HJ, BDM und den Kriegserfahrungen zweier Weltkriege versuchten, trotz allem ihren eigenen Weg zu gehen. In einzelnen Kapiteln unterscheidet die Autorin mehrere aufeinander folgende historische Phasen, angefangen mit der Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Machtübernahme der Nationalsozialisten über die verschiedenen Etappen der Radikalisierung unter nationalsozialistischer Herrschaft 1933-1935, 1935-1939, 1939-1941 bis zur Entfesselung der so genannten „Endlösung“ und schließlich der Kapitulation.
In den einzelnen Kapiteln werden die jeweiligen zeitlichen Phasen schwerpunktmäßig ins Visier genommen. Dabei bekommen die Leser/innen einen Einblick in die spezifische Lebenssituation der Jugendlichen und die Auswirkungen von Verfolgung und Unterdrückung auf die Betroffenen. Ergänzend dazu vermittelt die Autorin einen Überblick über einschneidende politische, rechtliche und soziale Entwicklungen des jeweiligen Zeitabschnittes und erläutert anhand konkreter Beispiele individuelle Möglichkeiten des Widerstands und der Verweigerung. Die Autorin lenkt hierbei den Blick gleichermaßen auf Jugendliche, die vom nationalsozialistischen Terror betroffen waren, dagegen opponierten, mitliefen oder selbst zu Täter/innen wurden. Den Leser/innen wird somit die Spannbreite an persönlichen Schicksalen und Handlungsoptionen von Jugendlichen während der Zeit des Nationalsozialismus verdeutlicht. Anhand von Tagebucheinträgen, Dokumenten, Briefen und Interviews mit Zeitzeug/innen kommen sehr verschiedene Personen zu Wort, wie beispielsweise der 14-jährige polnische Zwangsarbeiter Henryk Skrzypinski, die 6-jährige Ulrike aus Schweidnitz, deren Vater im Krieg für die Wehrmacht kämpft, oder der jüdische Widerstandskämpfer Cioma Schönhaus, der in Berlin für Verfolgte Dokumente fälscht.
In kurzen Texten werden außerdem verschiedene von Jugendlichen gegründete Widerstandsgruppen wie die Weiße Rose, die Gruppe Onkel Emil und die Edelweißpiraten vorgestellt. Grundlegende Begriffe und für den geschichtlichen Zusammenhang bedeutende Persönlichkeiten werden ergänzend in einem Glossar zusammengefasst und erläutert, ein Zeitstrahl verleiht den Leser/innen einen zusätzlichen Überblick.
Durch die abwechselnde Darstellung von nationalsozialistischer Machtausübung, den Auswirkungen von Unterdrückung und Verfolgung sowie konkreten Widerstandshandlungen bekommen die Leser/innen einen sehr anschaulichen und vielschichtigen Einblick in die Beschaffenheit der Gesellschaft während des Nationalsozialismus. Durch die Einteilung der Kapitel werden die Unterschiede zwischen den verschiedenen historischen Phasen und die stetige Radikalisierung und Ausweitung nationalsozialistischen Terrors deutlich. Das Buch bietet sich daher vor allem an, um Jugendlichen einen allgemeinen Überblick über die Lebenssituation von jungen Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft zu verschaffen. Aufgrund der Themen- und Textdichte ist die Implementierung des Buches in den Unterricht nur in Verbindung mit individueller Vor- oder Nacharbeit der Schüler/innen zu empfehlen. Hierbei eignet sich die Erarbeitung einzelner Kapitel durch Kleingruppen.
Es gelingt der Autorin, das wirklich komplexe Thema „Jugend im NS“ durch eine einfache, verständliche Sprache und klare, nicht allzu lange Texte für Jugendliche altersgerecht und interessant aufzuarbeiten. Die Vielseitigkeit der Themen bietet den Leser/innen außerdem die Möglichkeit, individuelle Schwerpunkte zu setzen und schließlich einzelne Themen zur Vertiefung nach persönlichem Interesse auszuwählen. Allerdings handelt es sich bei den unterschiedlichen Beiträgen meist um wenig ausführliche, überblicksartige Einführungstexte. Zur intensiveren Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema empfiehlt sich daher das Heranziehen weiterführender Literatur und anderer Medien.
Das selbstständige Erarbeiten der Inhalte eignet sich für Schüler/innen der Sekundarstufe II. Einige der Texte und Themen können bereits mit Klassen der Sekundarstufe I behandelt werden, allerdings sollte in diesem Fall eine Vorauswahl durch die Lehrkräfte vorgenommen werden, da auch sehr belastende Inhalte, so zum Beispiel die Vorgänge im Vernichtungslager Treblinka, Eingang in das Buch finden.