Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Das Thema Nationalsozialismus im Unterricht der Klassen 9/10 so zu präsentieren, dass Schülerinnen und Schüler es als „spannend“ empfinden, kann manchmal schon eine Herausforderung darstellen.
Der Gedanke liegt nahe, über die gemeinsame menschliche Entwicklungsstufe „Jugend“ hier eine Verbindung zu schaffen, die es erleichtert, sich der NS-Zeit anzunähern. Dies trifft sicherlich für die Kern-Auseinandersetzungen während der Pubertät zu. Fragen des Umgangs mit Liebe und Sexualität, mit Autoritäten, die Suche nach dem Platz in der Gesellschaft, das Ausprobieren verschiedener Rollen – all das war von Jugendlichen in den Dreißiger-Vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts genau so zu bewältigen wie von Jugendlichen heute.
Dennoch ist es für ein Verständnis der Zeit unabdingbar, den Blick auf die Unterschiede der Lebensumstände zu lenken.
Hierzu erweist sich ein kleines Experiment als hilfreich. Wir bitten die Jugendlichen, sich ihr Zimmer vorzustellen. Dann werden sie aufgefordert, einige Dinge daraus zu entfernen: den MP3-Player, das Handy, die Stereoanlage, den Fernseher, den Rechner, und stattdessen noch drei Betten in den Raum zu stellen, auf jedes dieser Betten noch ein kleineres Geschwisterkind zu setzen – so oder ähnlich waren die häuslichen Gegebenheiten bei der Mehrzahl der Jugendlichen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie verbringt man unter diesen Bedingungen seine Freizeit? Draußen, mit Freundinnen oder Freunden auf der Straße oder vielleicht im Sportverein, im Musikverein – jedenfalls nicht zu Hause in diesem Zimmer.
Apropos Freizeit: 14/15-jährige Jugendliche hatten nicht viel davon. 80% von ihnen verließen die Schule nach der achten Klasse. Die jungen Männer begannen eine Lehre oder arbeiteten in den Fabriken oder in den elterlichen Betrieben (zum Beispiel in der Landwirtschaft). Die Arbeitszeit in der Industrie betrug ca. 45 – 50 Stunden bei einer Sechs-Tage-Woche.
Auch junge Frauen arbeiteten in Fabriken oder in Dienstleistungsunternehmen, viele aber blieben zu Hause und unterstützten die Mutter bei der Hausarbeit, bis sie selbst heirateten und ihren eigenen Haushalt gründeten. Was das konkret für die Mädchen bedeutete, macht ansatzweise dieses Experiment deutlich: „Stellt euch vor, es gibt keine Pampers, keine Waschmaschine, keine Fertigpizza und keine Verhütungsmittel“. Das macht vielleicht verständlich, was für viele junge Mädchen den Reiz der Hitlerjugend ausmachte: „Nein, Mama, ich kann jetzt nicht helfen, ich muss zum Antreten!“ Und Handarbeiten oder Singen gemeinsam mit Freundinnen machte doch wirklich Spaß!
Noch ein Wort zum Aktionsradius. Die direkte Welt-Erfahrung der Mehrheit der Menschen in Deutschland bis zu Beginn der fünfziger Jahre betrug einen Umkreis von ca. 60 Kilometern Radius – nur so außerordentliche Ereignisse wie Kriege ermöglichten es einer größeren Anzahl von Männern, diesen als Soldaten zu erweitern. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verständlich, warum die Lager-Erfahrung zum Beispiel im Landjahr für viele Jugendliche durchaus erfreuliche Seiten hatte – besonders für die Mädchen, die nun endlich auch „die Welt erobern“ durften.
Nun zum Thema „Unangepasste Jugendliche“. Sie scheinen sich den heutigen Heranwachsenden als Vorbilder für widerständiges Verhalten von Altersgenossinnen und -genossen anzubieten. Um aber eine vorschnelle Heroisierung zu vermeiden und sich die Voraussetzungen für das von der Mehrheit abweichende Verhalten zu verdeutlichen, ist es notwendig, das Phänomen aufzufächern und die vielen Schattierungen in den Blick zu nehmen. Die Datenbanken auf der Internet-Seite des NS-Dokumentationszentrums bieten hierzu vielfältiges Material, seien es „Jugend im Nationalsozialismus“ oder auch „Erlebte Geschichte“.
Viele Kinder aus Familien, die von den Nationalsozialisten aus weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden, hatten gute Gründe, sich dem Konformitätsdruck der HJ zu entziehen. (Manche von ihnen machten allerdings auch die schmerzhafte Erfahrung, dass sie ihr starkes Bedürfnis, zur „Gemeinschaft“ zu gehören, wegen des Verbotes der Eltern nicht realisieren konnten).
Andere wiederum waren zunächst mehr oder weniger begeisterte Anhänger der HJ, so zum Beispiel die Namenspatronin vieler Schulen, Sophie Scholl, die zunächst als überzeugte BDMlerin eine Führungsposition innehatte. Andere Jugendliche wechselten die Schule oder den Wohnort und fanden dort Freunde und Freundinnen, die nicht fest in die HJ eingebunden waren. Manchmal führten auch Konflikte mit HJ-Führern oder mit der Disziplin innerhalb der HJ zu Orientierung in Richtung der Gruppen, die sich in ihren Formen eher auf die „Wilden Cliquen“ oder auf bündische Traditionen bezogen.
Mit Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges kommen neue Motive hinzu. Um diese den Jugendlichen heute verständlich zu machen, können folgende Fragen vielleicht helfen:
- Welchen Stellenwert bekommt „Leben“, wenn der Tod ständig präsent ist? So fielen Väter, Brüder, Onkel, Freunde an den Fronten, jeder Bombenangriff bedrohte das eigene Leben.
- Was bedeutet es für die Disziplin und die Opferbereitschaft, wenn absehbar wird, dass das „zukunftsweisende Projekt nationalsozialistische Weltherrschaft“ nicht mit dem Endsieg, sondern mit der Niederlage endet?
- Wie lebt es sich in einer Stadt, die zu 70 bis 90 % zerstört ist, in der die Schulen nicht mehr funktionieren? In der die höchste Autorität vielleicht die Oma ist, weil der Vater an der Front, der Lehrer mit den jüngeren Klassen in der „Erweiterten Kinderlandverschickung“ und der Rest der Familie evakuiert ist? Die vorherrschende Atmosphäre ist Anarchie und Chaos, das die Nationalsozialisten mit Hilfe der rigoros durchgreifenden Gestapo vergeblich zu bändigen versuchen. Welche Überlegungen drängen sich nun auf, wenn auch noch Waffen und Sprengstoff leicht zugänglich sind?
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht nachvollziehbar, wie Jugendliche durch die Verfolgung in die Illegalität und dadurch in eine mehr oder weniger bewusste, mehr oder weniger politisch orientierte widerständige Haltung getrieben wurden.
Zu „Helden“ eignen sich viele von ihnen vielleicht nicht mehr so gut. Aber dennoch tragen sie dazu bei, dem „Nie Wieder“ vielleicht einen kleinen Schritt näher zu kommen.