Kirche und Blues scheinen zunächst zwei Begriffe, die man nicht unbedingt als harmonisches Zweigespann miteinander in Verbindung setzen würde. Doch wie der Ostberliner Pfarrer und Initiator der Blues-Messen Rainer Eppelmann in einer biographischen Rückschau feststellte: Die Kirchengemeinden in der DDR mussten oftmals kreativ werden und ihre Sonderstellung nutzen, um den Wünschen und Bedürfnissen der Bürger/innen nachzukommen und oppositionellen Gruppierungen Freiräume und strukturelle Unterstützung zu bieten. So fanden in den 80er Jahren regelmäßig so genannte Blues-Messen in verschiedenen Ost-Berliner Kirchengemeinden statt, die Hunderte von Jugendliche und junge Erwachsenen, von denen eine Vielzahl bis dato in keiner Verbindung zu Kirche und Glauben gestanden hatte, dazu brachten, einen Gottesdienst zu besuchen. „Hier ging es darum, emotional aufwühlende Musik mit politischem Engagement zu verbinden.“ (S.24)
Welche Bedeutung die Blues-Messen für die zahlreichen Teilnehmer/innen, die Staatsführung und die politischen und sozialen Entwicklungen in der DDR in den 1980er Jahren hatte, beschreibt der Band ausführlich und mit einer präzisen Differenzierung zwischen den unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Phasen, in denen die Messen stattfanden. In einem einleitenden Text beschreibt Rainer Eckert die politische Situation in der DDR seit der Gründung des Staates mit dem Schwerpunkt auf oppositionelle Tätigkeiten verschiedener Interessensgruppen. In diesem Zusammenhang verweist er insbesondere auf die Aktivitäten subkultureller Kreise, wie beispielsweise der freien Jazzszene Ost-Berlins oder der Rock- und Punkbewegungen. In diesem Dunstkreis aus Regimekritiker/innen, Friedensgruppen und subkulturellen Musiker/innen entstand im Jahr 1979 die Idee, in kirchlichen Räumen einen Freiraum für unerwünschte Musik und politische Themen zu schaffen. So organisierten der Amateur-Musiker Günter (Holly) Holwas und Pfarrer Rainer Eppelmann während des Berliner Pfingsttreffens der „Freien Deutschen Jugend“ am 1.Juni 1979 die erste Blues-Messe in der Friedrichshainer Samariterkirche.
In der Einleitung des Bandes erläutert Rainer Eckert die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Veranstaltungsformats, schildert strukturelle und organisatorische Abläufe wie die Gründung eines Vorbereitungs- und Helfer/innenkreises innerhalb der Kirchengemeinde und geht auf die doppelte Problematik kircheninterner und staatlicher Widerstände ein.
In einem zweiten einführenden Beitrag umreißt Dirk Moldt die Entstehung oppositioneller Jugendbewegungen in der DDR und die fortschreitende Kriminalisierung von Jugendlichen, die aufgrund ihrer offen gelebten Andersartigkeit, ihrer Renitenz und ihres Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse ins Blickfeld des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und anderer staatlicher Stellen gerieten. Er beschreibt ausführlich die Methoden und Maßnahmen, die der Erziehung und Disziplinierung der abtrünnigen Jugendlichen dienen sollten, und geht auf Gegenkonzepte ein, die – vor allem unter dem Dach der Kirche – jene Jugendliche schützen und ihnen Freiräume bieten sollten.
In den folgenden Kapiteln widmet sich der Autor ausführlich und differenziert jeder einzelnen Blues-Messe, die zwischen 1979 und 1986 stattgefunden hat. Anhand von erhaltenen Dokumenten, Aussagen ehemaliger Teilnehmer/innen und Erinnerungen der Veranstalter/innen beschreibt er detailliert einzelne Organisationsabläufe, interne Konflikte und Auseinandersetzungen mit MfS und Bürger/innen, die den Blues-Messen kritisch gegenüberstanden. Er zeichnet ein anschauliches Bild von der Situation, in der sich Initiator/innen und Teilnehmer/innen in den unterschiedlichen Phasen befanden und geht hierbei sowohl auf greifbare Entwicklungen wie Ermittlungen und Repressionsmaßnahmen durch das MfS, als auch auf den durch jene Entwicklungen beeinflussten und in ständiger Veränderung befindlichen Impetus der Beteiligten ein. Durch die ausführliche Darstellung der einzelnen Veranstaltungen wird schließlich auch deutlich, wie es den staatlichen Stellen allmählich durch permanente Einflussnahme und zersetzende Maßnahmen gelang, den Blues-Messen ihren politischen Charakter zu nehmen, sodass den Organisator/innen – selbst uneins in ihren Vorstellungen und Wünschen – letztendlich nur die Selbstauflösung blieb. Die Themen und Inhalte der Veranstaltungen hatten sich in der Zwischenzeit im Sinne der Staatssicherheit verändert, es gab keine Blues-Musik mehr und schließlich waren auch die Teilnehmer/innen ausgeblieben. Aufgrund dieser Entwicklungen bildete sich ein Gruppe Engagierter aus dem Kreise der Kirche, die das Konzept der Blues-Messen überarbeiten und ein neues, offeneres Format entwickeln wollten. Ohne jedoch zu neuen Schlüssen und Ergebnissen gekommen zu sein, verliefen die Planungen der Gruppe bald wieder im Sande, da interne Unstimmigkeiten und der Druck des MfS nicht überwindbar schienen. Inzwischen waren außerdem die Aktivitäten der verschiedenen Friedensgruppen in den oppositionellen Kreisen Ost-Berlins präsenter und bedeutender geworden.
In einem resümierenden Beitrag bewertet Moldt schließlich die Bedeutung der Blues-Messen für die oppositionelle Szene der DDR und für die Entstehung der Friedensbewegung Mitte der 1980er Jahre. Die Ablösung des Formats der Blues-Messen durch eigene Großveranstaltungen der verschiedenen Friedensgruppen zeigt – so Moldts These – wie die Messen neben anderen Aspekten zur Emanzipation und zum Empowerment oppositioneller Gruppen beigetragen haben. Wenngleich der Autor in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Kirchengemeinden und ihrer zahlreichen Aktivist/innen innerhalb regimekritischer Tätigkeiten hervorhebt, verweist er dennoch auch auf das Missverständnis, die evangelische Kirche in der DDR sei als „Mutter der Revolution“ zu verstehen. (S.390)
Der Band gibt einen guten Überblick über Entstehungsgeschichte und inhaltliche Ausrichtung der Blues-Messen. Anhand der Entwicklungen, die die Veranstaltungsreihe im Laufe der Jahre nahm, lässt sich ein anschauliches Bild von der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Situation der DDR in den 1980er Jahren zeichnen. Durch das Aufzeigen von Verbindungen zwischen jugendkulturellen Bewegungen und regimekritischen Aktivitäten kann auf sinnvolle Weise die Bedeutung von Subkultur und jugendlichem Widerstand innerhalb totalitärer Systeme thematisiert werden.
Ergänzend wurde dem Band außerdem eine CD beigefügt, die umfangreiches Zusatzmaterial zum Thema enthält. Auf der CD finden sich sowohl einige Interviews mit verschiedenen Zeitzeug/innen, als auch erhaltene Tonbandaufnahmen der Blues-Messe am 29. Februar 1980 und zahlreiche Fotografien, die als Diashow mit musikalischer Begleitung angesehen werden können. Des Weiteren wurden zahlreiche schriftliche Dokumente zusammengestellt – wie beispielsweise Originaltexte von Liedern und Fürbitten der verschiedenen Blues-Messen – die zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema einladen. Der Band bietet sich daher an, um im Unterricht die verschiedenartigen Themen zu behandeln, die sich aus dem historischen und interpretatorischen Umgang mit den Blues-Messen ergeben.
Moldt, Dirk: Zwischen Haß und Hoffnung. Die Blues-Messen 1979-1986. Robert Havemann- Gesellschaft. Berlin, 2008.