Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Dass der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Kriegsgräberstätten gärtnerisch pflegt, wissen viele Menschen in Deutschland. Dass jedoch – neben zahlreichen anderen Aufgaben – auch der Schutz dieser Stätten vor einer Vereinnahmung durch Rechtsextreme ein wichtiges Anliegen des Vereins ist, dürfte weniger bekannt sein.
Kriegsgräberstätten sind Anziehungspunkte für Rechtsextreme. Vielerorts organisieren neonazistische Gruppierungen zu bestimmten Anlässen direkt auf den Friedhöfen ihre Aufmärsche und Kranzniederlegungen, etwa an den Jahrestagen von alliierten Bombardierungen deutscher Städte. Die Orte, an denen die Bombentoten begraben liegen, werden von ihnen dazu benutzt, Geschichte in ihrem Sinne zu verfälschen: Durch die entkontextualisierte Betrachtung allein der Toten auf deutscher Seite und deren Überhöhung suchen sie einen Opfermythos zu kreieren, der die Schuld der Deutschen im Nationalsozialismus relativieren soll. Kriegsgräberstätten sind dabei für die extrem Rechten besonders identitätsstiftende Orte, da sie durch die vermeintliche physische Nähe zu den Toten emotional aufladbar sind und z.B. durch quasi-mystische Praktiken wie Totenanrufungen eine persönlich besonders stark bindende ideologische Traditionslinie zwischen Alt- und Neonazis herstellen sollen.
Ein Beispiel für eine solche neonazistische Vereinnahmung einer Kriegsgräberstätte sind die Ereignisse, die sich an den Hamburger Bombenopfer-Sammelgräbern auf dem Ohlsdorfer Friedhof in den 2000er Jahren abgespielt haben. Regelmäßig im Hochsommer, irgendwann zwischen dem 25. Juli und dem 3. August – also dem historischen Zeitraum der Bombardierung Hamburgs 1943 in der „Operation Gomorrha“ – marschierten schwarz gekleidete, Fahnen tragende Männer und Frauen auf, die Kränze mit Aufschriften wie „Den Hamburger Opfern des Alliierten Bombenterrors“ hinterließen. Diese geschichtsrevisionistischen Aufmärsche erfolgten einige Jahre mehr oder weniger im Verborgenen, bis die Friedhofsverwaltung 2008 auf sie aufmerksam wurde und sich an den Volksbund Hamburg wandte, um gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden.
Als Reaktion auf die Besetzung des Ortes durch Rechtsextreme organisierten Friedhofsverwaltung und Volksbund gemeinsam mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis im Jahr 2009 erstmalig das Ohlsdorfer Friedensfest. Ziel des Bündnisses war - und ist es bis heute - jenseits einer Reduktion auf die deutsche Perspektive sowohl an die Opfer der Bombardierung Hamburgs als auch an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Die „Operation Gomorrha“ wird – entgegen der versuchten rechtsextremen Entkontextualisierung – in einen breiten historischen Zusammenhang eingebettet, der es erlaubt, die Kausalbeziehungen zwischen Nationalsozialismus, dem von Deutschland ausgegangenem Vernichtungskrieg und dem Bombenkrieg deutlich zu machen. Die Vielfalt der Perspektiven macht deutlich wie komplex die historischen Ereignisse waren, und wie sehr man sich davor hüten muss, einfache Schlussfolgerungen zu ziehen.
In einer ganzen Veranstaltungsreihe, die sich über zwei Wochen hin erstreckt, werden etwa folgende Fragen aufgeworfen: Wer waren die Bombenopfer in Hamburg und welche unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ereignisse gab es etwa durch die Hamburger Zivilbevölkerung, Soldaten auf Heimaturlaub, britische und amerikanische Bomber-Piloten, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, NS-Verfolgte, zur Bombenräumung Verpflichtete, Nazi-Größen aus Politik und Stadtplanung etc.? Wie kam es zu den alliierten Bombardierungen? Welche Auswirkungen auf die NS-Gesellschaft hatten sie? Mitten im Krieg gab es Verfolgung und Widerstand – welche Opfer waren hier zu beklagen? In welchem Zusammenhang stehen NS-Diktatur, Verfolgung und Krieg? Welche Nachwirkungen in die Gegenwart hinein haben die Ereignisse? Wie werden traumatisierende Erfahrungen an die Folgegenerationen weitergegeben? Wie gestaltete sich die öffentliche Erinnerung an die Operation Gomorrha in Hamburg, wie hat sie sich über die Jahrzehnte entwickelt? Wie können auch nach Ende der traditionellen mündlichen Überlieferung angemessene und zeitgemäße Formen des Gedenkens gefunden werden?
Im Verlauf der Jahre ist es dem Ohlsdorfer Friedensfest gelungen, den Neonazis auf der zentralen Hamburger Gedenkstätte für die Bombenopfer sowohl ideell als auch physisch den Raum zu nehmen. Ihre Aufmärsche fanden in den vergangenen Jahren in wesentlich kleinerem Ausmaß an unbedeutenden Orten in Hamburg statt. Gleichzeitig hat sich durch die Ohlsdorfer Initiative auch die lokale Gedenkkultur weiterentwickelt: Teilnehmende an internationalen Jugendbegegnungen des Volksbundes tragen ihre heutige Vision von Erinnerung bei (z.B. durch Videoprojektionen auf das Bombenopfer-Mahnmal), es gibt Begegnungen und Gespräche zwischen den Generationen, zeitgenössische künstlerische Ausdrucksformen wie Film oder Musik stehen auf dem Programm etc. Für die Initiative sehr erfreulich: Das Bündnis für Demokratie und Toleranz zeichnete das Ohlsdorfer Friedensfest 2012 für vorbildliches zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus aus und überreichte ihm das zweithöchste ausgeschüttete Preisgeld.
Neben diesen stärker auf gesellschaftliche Interventionen ausgerichteten Gedenk-Aktivitäten nimmt sich der Volksbund der Thematik aber auch regelmäßig in seiner Jugendbildungsarbeit an. Beispielsweise initiiert er in Kooperation mit Schulen Projekte, im Verlauf derer Informationen zu Geschichte und Entstehung von Kriegsgräberstätten, den dort bestatteten Personengruppen sowie wenn möglich zu Einzelbiographien gesammelt werden. Die Schülerinnen und Schüler publizieren ihre Ergebnisse am Ende in Form einer Tafel, die in der Regel feierlich eingeweiht wird und künftigen Besucherinnen und Besuchern des Ortes Informationen und Kommentierung zur Verfügung stellt. Dies ist etwa auch an Pilgerstätten für Rechtsextreme geschehen, z.B. an dem oben erwähnten Bombenopfer-Sammelgrab in Hamburg, oder in Essel bei Walsrode, einer Kriegsgräberstätte, auf der zahlreiche jugendliche, teils sogar minderjährige Angehörige von Wehrmacht, Waffen-SS und Reichsarbeitsdienst begraben liegen. Hier wurden Indoktrination und Fanatisierung der Jugend in der NS-Zeit thematisiert oder die mörderischen Effekte der sogenannten Abwehrkämpfe im Frühjahr 1945, die u.a. eine Fortsetzung des Massensterbens in den Konzentrationslagern zur Folge hatten (vgl. den Beitrag von John Cramer in der März-Ausgabe 2012 dieses Magazins). Solcherart kommentiert verlieren die Kriegsgräberstätten ihre Attraktivität für Neonazis. Dass die Informationstafeln ein Ärgernis für sie darstellen, zeigt auch der Umstand, dass die Tafel zur „Operation Gomorrha“ in Hamburg im Februar 2013 abmontiert wurde – von Unbekannten.
Um sich über eine projektbezogene Arbeit hinaus dauerhaft und vertieft mit der Thematik auseinandersetzen, hat der Volksbund seit den 90er Jahren an mehreren großen Kriegsgräberstätten Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten angesiedelt. Die vier vereinseigenen Häuser in Lommel (Belgien), Ysselstein (Niederlande), Niederbronn (Frankreich) und auf Usedom (nahe der deutsch-polnischen Grenze) werden regelmäßig für friedenspädagogische Aktivitäten genutzt und machen deutlich, welche Funktion Pflege und Erhalt von Kriegsgräberstätten zunehmend haben: Früher vorwiegend Orte von privater Trauer, werden sie heute zu wichtigen gesellschaftlichen Gedenk- und Lernorten. Als historische Wissensspeicher lassen sie sich, vergleichbar mit anderen Gedenkstätten, didaktisch nutzen.
In der elsässischen Bildungs- und Begegnungsstätte des Volksbundes Niederbronn gibt es seit 2009 eine dauerhafte Ausstellung, die die Vielschichtigkeit der mit der Kriegsgräberstätte verbundenen historischen Thematiken widerspiegelt: In Bildern, Texten und materiellen Zeugnissen werden Einzelbiographien erzählt und damit ein Panorama der unterschiedlichen Personengruppen, die auf dem Friedhof begraben liegen, ausgebreitet: der Hitlerjunge, der SS-Mann, der Kriegsgefangene, der Minenräumer, der Kriegsverbrecher etc. Gleichzeitig gibt die Ausstellung Informationen über den historischen Kontext und ermöglicht so eine Beschäftigung mit den dahinter liegenden Themenkomplexen, insbesondere auch mit der Täter-Opfer-Problematik. Das Bemühen der Niederbronner Dokumentation ist es, dem Motto „im Tod sind alle Menschen gleich“ oder der Idee, die Begrabenen seien „alles arme Jungs“ gewesen, entgegenzuwirken: Die Frage nach einer aktiven Beteiligung (oder nicht) der Personen an Unrecht oder Verbrechen soll nicht verdeckt werden, sondern im Gegenteil systematisch den Besucherinnen und Besuchern der Stätte zugänglich gemacht werden. Rechtsextreme Propaganda oder Veranstaltungen mit dem Tenor „Ewiges Erinnern an ihre ruhmreichen heldenhaften Taten“ sind hieran nicht anschließbar.