Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Noch am 20. April des Jahres 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurden in Hamburg 20 jüdische Kinder und 28 Erwachsene ermordet. Der Tatort war das damalige Außenlager des KZ Neuengamme am Bullenhuser Damm in Hamburg-Rothenburgsort. Das unmittelbare Tatmotiv lag in der Vertuschung von Tuberkuloseexperimenten an den Kindern. Die Geschichte der Ermordung der jüdischen Kinder samt ihren Häftlingsbetreuern und einer Gruppe von sowjetischen Häftlingen stellt nur den Endpunkt der Geschichte eines einzelnen Verbrechens, innerhalb des großen Verbrechens dar, das Nationalsozialismus heißt.
Die Autorinnen Iris Groschek und Kristina Vagt haben die Geschichte der Ermordung der Kinder und ihren Leidensweg über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz in das Lager Neuengamme nachgezeichnet. Sie erzählen über das Schicksal der Opfer, zeichnen Charakter und Motivlage der Täter nach. Einen wichtigen Teil des vorliegenden Bandes macht schließlich die Erzählung der Nachkriegsgeschichte aus, inklusive des juristischen Umgangs mit dem Verbrechen und der Entstehung der Gedenkstätte.
Vor ihrer Deportation nach Neuengamme wurden die Kinder nach Auschwitz verschleppt. Die zehn jüdischen Jungen und zehn Mädchen kamen von dort a, 28. November 1944 in Neuengamme an. Die Kinder hatten unterschiedliche soziale Hintergründe und stammten aus verschiedenen von den Deutschen besetzten Ländern: Das Gros von 14 Kindern war in Polen beheimatet, die anderen kamen aus den Niederlanden, Frankreich, Italien und Jugoslawien.
Im KZ Neuengamme wurden, wie in anderen Lagern auch, medizinische Experimente an Häftlingen durchgeführt. Die Ausführenden waren durchschnittliche Ärzte, denen die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus den Freiraum verschaffte zu Menschenversuchen, bei denen das Schicksal der Probanden keine Rolle spielte. Wesentlich zum Tragen kam bei diesen Experimenten der Ehrgeiz und das Karrierestreben der Mediziner. Verantwortlich für die Experimente an den Kindern in Neuengamme war Dr. Kurt Heißmeyer. Er war im SS-Sanatorium Hohenlychen leitend in der Abteilung für lungenkranke Frauen tätig und hatte aus Berlin die Erlaubnis für Experimente in einer Sonderabteilung des KZ Neuengamme erhalten. Der Arzt profitierte hierbei von seinen guten Kontakten zu NS-Größen. Heißmeyer hielt an seinem Vorhaben fest, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass sein theoretischer Ansatz, es handele sich bei Tuberkulose (TBC) um eine Erschöpfungskrankheit und nicht um eine Infektionskrankheit, die durch einen zweiten künstlich erzeugten behandelt werden könne, widerlegt war. Zu den wissenschaftlich irrwitzigen Vorannahmen gesellte sich bei Heißmeier die von der nationalsozialistischem Ideologie durchdrungene Annahme es würde „rassisch minderwertige“ Menschen geben und diese seien für Tuberkulose anfälliger. Die Autorinnen gehen davon aus, dass seit dem Juni 1944 an insgesamt 100 Häftlingen Versuche durchgeführt wurden.
Die Experimente an den 20 Kindern begannen schon bald nach ihrer Ankunft in Neuengamme. Den Kindern wurden lebende TBC-Bakterien injiziert. Darüber hinaus wurden ihnen, nachdem sie schwer erkrankt waren, die Lymphdrüsen zur Untersuchung entfernt. Diesen Eingriff mussten polnische und tschechische Häftlingsärzte durchführen.
Neuengamme war das letzte große Konzentrationslager, das angesichts der unaufhaltsamen militärischen Niederlage des NS-Systems aufgelöst wurde. Seit dem 14. April 1945 wurden die Häftlinge auf Todesmärsche geschickt. Um die Taten an den Kindern zu vertuschen, sollten diese, ebenso wie ihre Betreuer, sterben. Am 20. April 1945 wurden die Kinder und die Betreuer in das geräumte KZ-Außenlager Bullenhuser Damm – ein ehemaliges Schulgebäude – gebracht und dort erhängt. An dem Morden nachgewiesen beteiligt waren die SS-Männer Max Pauly, Alfred Trzebinski, Wilhelm Dreimann, Adolf Speck, Ewald Jauch und Johann Frahm, wobei Lagerkommandant Pauly einen Befehl des Leiters des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes (SS-WVHA) Obergruppenführer Oswalt Pohl an seinen Standortarzt Dr. Trzebinski weitergegeben haben will. Um die letzten Spuren des Verbrechens zu beseitigen wurden die Leichen der Kinder vermutlich zurück nach Neuengamme gebracht und dort verbrannt.
Zwischen 1946 und 1948 wurde in Hamburg vor einem britischen Militärgericht – in den sogenannten Curio-Haus-Prozessen – gegen ehemalige SS-Angehörige wegen Verbrechen in Neuengamme verhandelt. Im Zuge des Hauptprozesses kamen auch die Morde vom Bullenhuser Damm zur Anklage. Die Tatbeteiligten SS-Männer wurden schließlich zum Tode verurteilt. Dr. Kurt Heißmeyer war zu diesem Zeitpunkt bereits untergetaucht und lebte in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR, wo er von 1946 bis 1963 als Lungenfacharzt praktizierte. Obwohl bereits früh, nämlich 1948, Gerüchte über Heißmeyers Arbeit in Hohenlychen kursierten, und er aufgrund eines anonymen Schreibens verdächtigt wurde, an medizinischen Versuchen in Neuengamme beteiligt gewesen zu sein, sah das ermittelnde Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von einer Verhaftung ab, weil, so heißt es in einem Zwischenbericht aus dem Jahr 1959, „im Interesse einer ausreichenden medizinischen Versorgung unserer Bevölkerung“ davon abgesehen wurde; nicht nur für den, laut Eigendefinition antifaschistischen Staat, DDR ein Offenbarungseid. Erst am 13. Dezember 1963 wurde Heißmeyer verhaftet und schließlich drei Jahre später am 13. Juni 1966 vom Bezirksgericht Magdeburg „wegen fortgesetzten Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ zu lebenslanger Haft verurteil. Heißmeyer starb schließlich 1967 in der Haftanstalt Bautzen.
Neben der wichtigen Auseinandersetzung mit Tat und Tätern widmet sich der Band den ermordeten Kindern und ihren Familien, soweit deren Lebensumstände rekonstruierbar waren, und den Häftlingsbetreuern. Die Identität der am selben Tag ermordeten sowjetischen Opfer ist bis heute ungeklärt. Mit diesem Ansatz sind Ausstellung und Begleitband ein wichtiges Moment in der Erinnerung. Dazu gehört auch die Reflexion des Erinnerns und Gedenkens am historischen Ort, die von den Autorinnen so engagiert, wie wissenschaftlichen Ansprüchen genügend, nachvollzogen wird. Der Weg von der Zwischennutzung des ehemaligen Schulgebäudes am Bullenhuser Damm durch die britische Militärregierung, die dort zwischen dem Mai 1945 und dem Januar 1946 entlassene deutsche Kriegsgefangene unterbrachte, bis hin zu der neuen Dauerausstellung, die am 20. April 2011 eröffnet wurde, ist ein langer. Wie so häufig in der alten Bundesrepublik lag das Engagement bei Einzelnen, wie dem NS-Verfolgten Fritz Brinkmann, dem Journalisten Günther Schwarberg oder der Rechtsanwältin Barbara Hüsing, die über Spurensuchen an die Verbrechen erinnerten, dazu publizierten oder als Gründungsmitglieder den Aufbau der Vereinigung „Kinder vom Bullenhuser Damm“ initiierten, wie Schwarberg und Hüsing.
Die moderne Dauerausstellung, deren didaktischen Ansatz der Begleitband abschließend beschreibt, bietet vielfältige Ansatzpunkte zum forschenden Lernen und knüpft mit der Subjektorientierung an die Interessen und mediengeprägten Haltungen von Jugendlichen an. Statt auf die Inszenierung von Betroffenheit zu setzen werden in den pädagogischen Angeboten die ohnehin aufkommenden Emotionen aufgegriffen und können durch kreative Formen ausgedrückt werden. Darüber hinaus bietet die Arbeit mit Quellen und Medienangeboten im forschenden Lernen die Möglichkeit Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Eigenverantwortlichkeit oder kritisches Denken zu entwickeln.
Für alle, die sich mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen, ist der Begleitband zur Ausstellung im Bullenhuser Damm eine wichtige Bereicherung. Diese Aussage gilt, aufgrund der guten Lesbarkeit des Buches für ein breites Publikum. Lehrkräften und anderen Pädagog/innen , die mit ihren Schulklassen oder Seminargruppen einen Besuch der Gedenkstätte planen, kann der Band für die Vorbereitung ausdrücklich empfohlen werden.
Diese Rezension ist zuerst erschienen auf dem Webportal Shoa.de - Zukunft braucht Erinnerung.