Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Um Schülerinnen und Schüler an Themen des NS-Unrechtssystems von 1933 bis 1945 und des geteilten Deutschlands von 1945 bis 1989 heranzuführen, sind Gedenkstätten wichtige außerschulische Lernorte. Das Einbinden von Zeitzeugen und die Umsetzung in künstlerischen Workshops im Rahmen einer Projektwoche bietet für die Jugendlichen die Möglichkeit, sich intensiv mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Im Jahr 2001 wurde von der Gedenkstätte Bergen-Belsen (Stiftung niedersächsische Gedenkstätten) und der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt) unter dem Titel „Unrechtssysteme in Deutschland“ ein zweiteiliges Schülerprojekt für Real- und Sekundarschüler/innen der Klassenstufen 9 und 10 entwickelt. Es findet seitdem einmal jährlich mit Schülerinnen und Schülern der Oberschule Walsrode (Niedersachsen) und der Hagenberg-Sekundarschule Gernrode (Sachsen-Anhalt) statt. In diesem Beitrag wird das pädagogische Konzept des Seminars vorgestellt und auf die zuletzt stattgefundenen Seminareinheiten eingegangen; für diesen Beitrag wird besonders auf den Projektteil in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn im November 2011 eingegangen.
Jeweils im Frühjahr fahren die Schülerinnen und Schüler der 9. Klassen zum ersten Teil des Seminars in die Gedenkstätte Bergen-Belsen. Seit 2011 wird das Seminar mit einem überarbeiteten und erweiterten konzeptionellen Ansatz durchgeführt. Die Ansatzpunkte sind dabei Recht/Unrecht, eine systemische Perspektive sowie der Bezug auf Grund- und Menschenrechte. Die Schüler/innen lernen zunächst unter pädagogischer Anleitung den historischen Ort des früheren Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagers kennen, arbeiten in vier bis fünf Workshops und präsentieren die Ergebnisse. Beim Seminar 2011 arbeiteten die Jugendlichen in einem Workshop an der Frage, wie sich Staat und Gesellschaft unter der NS-Herrschaft zum Unrechtssystem entwickelten. Hier wurde im Rahmen einer interaktiven Präsentation mit allen Schülern/innen das „Netz der Unrechtssysteme“ gesponnen. An Beispielbiografien von Lagerinsassen wurde in einem zweiten Workshop mit den Schüler/innen daran gearbeitet herauszufinden, wann und mit welchen Begründungen die Personen ins KZ Bergen-Belsen kamen und welches Recht dabei in Unrecht umgekehrt wurde. In einem weiteren Workshop bearbeiteten Schüler/innen das Thema der Lagergerichte, welche von Häftlingen in Bergen-Belsen selbst gehalten wurden und gingen dabei der Frage nach, wie und warum diese Gerichtsbarkeit entstand und ob es in einem Unrechtssystem wie Bergen-Belsen überhaupt Rechtsprechung geben kann. In einem vierten Workshop entwickelten die Jugendlichen mit theaterpädagogischen Methoden Standbilder, die sich mit den Wirkprinzipien auseinandersetzten, die Täter/innen dazu bewegt haben, so und nicht anders zu handeln, indem sie grundlegende Rechte negierten und nach dem Recht des Stärkeren handelten. Im fünften Workshop widmeten sich die Schüler/innen der Frage, was Recht/Unrecht in politischen Systemen bedeutet und welche Rolle der Mensch dabei spielt. Im Mittelpunkt standen dabei die Teilnehmer/innen mit ihrem Verständnis und ihrer Wahrnehmung von Recht sowie Überlegungen zu individuellen Handlungsmöglichkeiten gegen Unrecht. Beim Seminar im Frühjahr 2011 stellte Arieh Koretz, ein Überlebender des KZ Bergen-Belsen, im Rahmen einer Zeitzeugengesprächs sein „Tagebuch eines Jugendlichen“ vor.
Im Herbst jeden Jahres fahren dieselben Jugendlichen, nun in der 10.-Klasse, zum zweiten Teil des Seminars in die Gedenkstätte Marienborn, um sich mit der SED-Diktatur auseinanderzusetzen. Gemeinsam mit Gedenkstättenpädagog/innen, Teamer/innen mit großer pädagogischer Erfahrung und Zeitzeugen arbeiten sie ihre Erkenntnisse in den Workshops Fotografie, Video, künstlerische Gestaltung und Theater auf und präsentieren die Ergebnisse. Der langjährige pädagogische Mitarbeiter der Gedenkstätte Rainer Potratz hat diesen Seminarteil entwickelt. Das bewährte Grundkonzept konnte nun auch von neuen Mitarbeiter/innen mit eigenen Ideen ausgestaltet werden.
„Leben in Grenzen“ war das Thema des Seminars „Unrechtssysteme in Deutschland Teil 2“ in der Gedenkstätte Marienborn im November 2011. Die Schüler/innen lernten fünf Zeitzeug/innen mit jahrelanger Erfahrung in der politischen Bildungsarbeit und deren unterschiedliche Biografien kennen. Sie beschäftigten sich mit der Entstehung der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten, dem Leben im Sperrgebiet, den Motiven für gelungene Fluchten und mit politischer Haft als Folge von gescheiterten Fluchtversuchen und Ausreiseanträgen aus der DDR. Die Zeitzeug/innen hatten viel Gesprächsbereitschaft mitgebracht und standen den 40 Schüler/innen an mehreren historischen Orten zur Verfügung – in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg (ehemalige Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für den Bezirk Magdeburg) und am Grenzdenkmal Hötensleben, dem wohl am besten und umfassendsten erhaltenen Zeugnis der innerdeutschen Grenzbefestigung.
Melanie Kollatzsch war mit 84 Jahren die weitaus älteste Zeitzeugin. Sie stand für ein ausführliches Gespräch in der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg zur Verfügung, erlebte die Teilnehmer/innen bei der Präsentation des 2007 entstandenen Dokumentarfilms von Blende 39 zu ihrem Haftschicksal „Gesicht zur Wand – 15 Jahre politische Haft in der SBZ und DDR“ und diskutierte mit ihnen. Melanie Kollatzsch wurde 1947 als 19-Jährige von einem sowjetischen Militärtribunal in Halle (Saale) wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Film schildert sie ihre Erinnerungen an die Nachkriegszeit, die grüne Grenze, an Gewalt, Lagerhaft, Einzelhaft, Ohnmacht und Widerstand. Einige Schüler/innen verarbeiteten im Workshop Kunst, geleitet von Kunstpädagogin Christiane Heinlein, diese Haftmotive in Bildern.
Roswitha Knoppek versuchte gemeinsam mit ihrem Bruder Anfang der 1970er Jahre aus den für sie erdrückenden politischen Verhältnissen in der DDR zu flüchten. Die Flucht über Ungarn nach Österreich misslang, beide wurden in Magdeburg inhaftiert und nach einem Jahr von der Bundesrepublik freigekauft. Ihr Schicksal beschäftigte die Schüler/innen im Workshop Theater. Unter der Anleitung des Psychologen und Theaterpädagogen Thomas Seyde verbanden sie in ihrer Präsentation eigene Erfahrungen von Unfreiheit und Eingeschränktsein mit den Fluchtmotiven der Zeitzeugin sowie der Erzählung von Friedrich Christian Delius „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“. Diese beruht auf einem wahren Vorgang. Dem Rostocker Klaus Müller (in der Erzählung Paul Gompitz) gelang in den 1980er Jahren, von den Italien-Reiseberichten Johann Gottfried Seumes aus dem 19. Jahrhundert angeregt, eine Flucht aus der DDR, eine Reise nach Syrakus und die Rückkehr.
Wolfgang Bischoff erlebte 1951 als kleiner Junge die Verhaftung seines Vaters durch sowjetische Militärs – und erfuhr erst in den 1990er Jahren von der Verurteilung und Hinrichtung seines Vaters als angeblichem Spion in Moskau. Als 16-Jähriger protestierte er gegen die politisch motivierte Verhaftung eines Schulfreundes. Damit war für ihn der weitere Besuch der Erweiterten Oberschule nicht mehr möglich. Als junger Familienvater hielt er die politische und berufliche Einschränkung nicht mehr aus. Die Familie stellte 1976 einen Ausreiseantrag. Dies führte zu 2 Jahren Haft für Wolfgang Bischoff beim MfS in Magdeburg und im Strafvollzug in Cottbus, schließlich zu seinem Freikauf und zur Ausreise der Familie in die Bundesrepublik. Die Schüler/innen interessierten sich beim Besuch in Magdeburg besonders für die damaligen Verhörmethoden. Sie stellten im Workshop Video anhand ausgewählter Verhörprotokolle aus den Stasi-Akten von Herrn Bischoff eine Verhör-Situation nach. Der Workshop wurde von den jungen Filmemacher/innen von Blende 39 Eva Volkmann und Peter Bräunig geleitet, die über die Arbeit am Dokumentarfilm über Melanie Kollatzsch und mit vielen Zeitzeugeninterviews für die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg – auch mit Wolfgang Bischoff – mit dem Thema vertraut sind.
Der vierte Zeitzeuge, Hermann Pröhl, berichtete den Jugendlichen am Grenzdenkmal Hötensleben, ca. 20 km südlich von Marienborn, von seiner Zeit bei den Grenztruppen 1967/68 und zeigte ihnen die kleine Brücke über einen Grenzbach, die er gemeinsam mit einem weiteren Grenzsoldaten 1968 bei der Fahnenflucht in die Bundesrepublik überquerte. Er unterstützte in der Woche den Workshop Fotografie, geleitet von Rita May, in dem die Schüler/innen eine Präsentation ihrer Eindrücke von den baulichen Relikten der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn zusammenstellten.
Von Achim Walther, dem Chronisten und Vorsitzenden des Grenzdenkmalvereines Hötensleben e.V., erhielten die Schüler/innen einen Einblick in das Leben im Sperrgebiet bis 1989. Die Kunst-Gruppe setzte Eindrücke dieses Besuches in Bilder um, die die Sperranlagen und das „eingesperrte Dorf“ zeigen.
Derzeit wird das diesjährige Seminar „Unrechtssysteme in Deutschland Teil 2“ in der Gedenkstätte Marienborn vorbereitet, das im November 2012 stattfinden soll. Erneut wird es unterstützt von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt und der Stiftung Rechtsstaat Sachsen-Anhalt e.V.