Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Kann die Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der europäischen Geschichte, die an den Orten der Verbrechen so präsent sind wie nirgendwo sonst, junge Menschen aus den verschiedenen europäischen Ländern näher zusammenzubringen?
Das künftige Europa wird wohl ohne die Erinnerung an die Verbrechen nicht existieren können. Wir müssen uns offen und ehrlich über alle Seiten unserer gemeinsamen Geschichte verständigen. Wie könnte dieses Ziel besser erreicht werden als durch gemeinsames Lernen und Begegnung am historischen Ort? Die ehemaligen Konzentrationslager gehören nicht nur den Deutschen, sie sind ein gemeinsames Erbe, sie gehören der gesamten Menschheit.
Die Erinnerungskulturen in Deutschland und Tschechien unterscheiden sich. Kurz gesagt, hat sich einerseits in Deutschland eine Verschiebung der Erinnerung vom Betrauern der eigenen Opfer des Krieges zum Betrauern und zur Erinnerung an die deutschen und ausländischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und des Stalinismus ergeben. Es entwickelte sich auch das Gedenken an den Widerstand.
Leitbild der tschechoslowakischen Erinnerung andererseits war zunächst der Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Der Ort Lidice ist zum Symbol dafür geworden. Man verknüpfte hiermit die Rolle der kommunistischen Partei als Schlüsselgruppe des Widerstandes, mit der Ehrung der sowjetischen Befreier. Erst nach der ‚Samtenen Revolution’ im Jahre 1989 wurde in die offizielle Gedenkkultur die vollständige Dimension des Völkermordes an Juden und ein differenziertes Bild des Widerstandes integriert.
Im März 2012 führte die Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen ein gemeinsames Projekt mit einer tschechischen Jugendgrupper des Karel Čapek-Gymnasiums aus Dobříš und einer deutschen Schüler/innengruppe vom Louise-Henriette-Gymnasium aus Oranienburg durch.
Die Teilnehmer/innen im Alter zwischen 15-17 Jahren hatten sich auf diesen Tag gut vorbereitet.
Das deutsche Gymnasium hatte bereits im Januar 2012 an einem einwöchigen Seminar teilgenommen. Sie arbeiteten zu Themen wie der Herstellung illegaler Lieder- und Notizbücher im KZ Sachsenhausen und zu dem ehemaligen tschechischen Häftling Kunstmaler, Dichter und Schriftsteller Josef Čapek. Čapek, der 1942-1945 im KZ Sachsenhausen inhaftiert war, starb zum Kriegsende im KZ Bergen-Belsen. Seine Biografie und sein Werk bildeten den Fokus der gemeinsamen Arbeit beider Gruppen.
Die tschechischen Schüler/innen hatten sich ebenso auf den Austausch vorbereitet. Die Ergebnisse präsentierten sie im Rahmen der Begegnung mit den Deutschen bei einer Ausstellungseröffnung zum 125. Geburtstag von Josef Čapek in der Gedenkstätte in Gegenwart des tschechischen Botschafters. In diesem Zusammenhang bekamen sie großen Beifall auch für ihr kulturelles Programm.
Die deutschen Teilnehmer/innen bildeten gemeinsam mit den tschechischen vier gemischte thematische Arbeitsgruppen. Beim gegenseitigen Kennenlernen in gemischten Gruppen stellten sich die Teilnehmenden mit Hilfe eines Arbeitsblattes „Staatsfeiertage in Tschechien und in Deutschland“ die verschiedenen Erinnerungskulturen vor. Die Materialien wurden zweisprachig in deutscher und tschechischer Sprache zur Verfügung gestellt. In der Folge wurden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Erinnerungskulturen herausgearbeitet. Die Staatsfeiertage in beiden Ländern wurden verglichen. Im Anschluss haben sich alle auf den 8. Mai konzentriert, der in Tschechien als Feiertag gefeiert wird, aber nicht in Deutschland. Fast alle Teilnehmenden waren sich einig, dass der 8. Mai in Tschechien als Tag des Sieges gefeiert wird oder als Tag der Befreiung von Nationalsozialismus. In Deutschland wird er nach Meinung der deutschen Schüler/innen negativ betrachtet, als Tag einer großen Katastrophe in der deutschen Geschichte, nach der alles zerstört war und der somit keinen Anlass zum Feiern bietet.
Die einzelnen Arbeitsgruppen erhielten Materialien zu folgenden Themen, die sie im Gelände der Gedenkstätte verorten konnten:
- Die erste Gruppe besichtigte das Neue Museum (Josef Capek-Sonderausstellung und die Eröffnung der tschechoslowakischen Ausstellung in der nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhauen im Jahre 1961).
- Die zweite Gruppe arbeitete im Bereich der Gedenkzeichen (Enthüllung der Tafel mit Namen der 18 verstorbenen tschechischen Hochschulstudenten durch den Staatspräsidenten Tschechiens Václav Havel).
- Die dritte Gruppe hielt sich in der Ausstellung der ehemaligen Häftlingsküche auf („Sonderaktion 17.11.1939“).
- Die vierte Gruppe betätigte sich in einem Seminarraum im Besucherzentrum künstlerisch, indem sie versuchte im kubistischen Stil zu zeichnen, mit einer Technik, in der sich auch Josef Capek versuchte. Bei seiner Paris-Reise mit dem Bruder Karel vor dem 1. Weltkrieg, hatte Josef Capek den Kubismus für sich entdeckt. Manche Teilnehmenden haben statt kubistischer Kunst auch Kunstplakate hergestellt, die sich direkt auf die Person Čapeks bezogen.
Für die deutschen Teilnehmenden war das Thema „Sonderaktion 17.11.39“ etwas gänzlich Neues. Nach den Massendemonstrationen in Prag sind tschechische Hochschulen geschlossen worden, neun Studierende wurden erschossen und 1140 Hochschulstudierende wurden als Geiseln ins KZ Sachsenhauen gebracht. Es war ihnen nicht bekannt, dass der Internationale Studententag im Jahre 1941 in England ausgerufen wurde und auf diesem Ereignis beruhte. In dieser Hinsicht haben besonders deutsche Schüler/innen diese Gruppenarbeit als sehr spannend bewertet. Nach gemeinsamer Arbeit im Gelände (zur Verfügung standen vorbereitete Materialien, Medienstationen und Ausstellungsteile) kehrten alle Jugendlichen zur gemeinsamen Präsentation zurück, die weitgehend in englischer Sprache erfolgte. Zu den vorgetragenen Themen wurden Videoausschnitte mit Berichten von Überlebenden ausgewählt, die das Vorgetragene um die Perspektive der Überlebenden ergänzten.
Im Rahmen der Auswertung schrieb ein tschechischer Teilnehmer: „Ich bin der Meinung, dass jeder mal im Leben solche Stätte besichtigen sollte, damit er weiß, was sich in der Geschichte abgespielt hatte und dies sich nicht wiederholen sollte“. Und ein deutscher Schüler: „Der Austausch ist sehr gelungen. Wir haben uns mit den tschechischen Schülern gut verstanden und viel gelernt. Alles in allen war der Schüleraustausch eine wichtige Erfahrung für alle Beteiligten.“
Versöhnungswege sind, wenngleich langandauernde Prozesse, unverzichtbar für den Fortgang der europäischen Einigung. Die deutsch-tschechische Begegnung war sicherlich ein kleiner Beitrag dazu.