Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Es ist eine durchaus naheliegende Vermutung, dass ein Titel wie „Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus“ manche potentielle Käufer/innen vor die Frage stellt: Worum handelt es sich überhaupt bei Antiziganismus? Obwohl dieses Phänomen ein durchaus weit verbreitetes Problem darstellt und nach einer Umfrage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma 76% der Befragten aus der Minderheit angaben, schon häufiger diskriminiert worden zu sein (vgl. S. 12), ist die Sensibilität gegenüber dieser Form von Diskriminierung im Vergleich zur Aufmerksamkeit, die Rassismus und Antisemitismus zu recht erfahren, gering.
Ein Problem bei der Benennung von manchen Phänomenen aus dem Bereich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit liegt darin, dass der jeweilige sprachliche Ausdruck bereits leicht in die Logik von homogenisierenden Zuschreibungen und Differenzkonstruktionen verfällt. So ist im Begriff des Rassismus die fälschliche Annahme der Existenz von menschlichen Rassen enthalten, Antisemitismus – ursprünglichen eine Selbstbezeichnung eines sich als wissenschaftlich verstehenden Judenhasses – meint nicht die Stereotypisierung von Angehörigen der semitischen Sprachfamilie, sondern von Juden und der Begriff Islamophobie, der eine rassistische Haltung gegenüber Personen, die als Muslime angesehen werden, ist ursprünglich ein Kampfbegriff der iranischen Theokratie, mit dem Kritik am politischen Islam und Islamismus als westliche antimuslimische Haltung abgewehrt wurden. Ähnliche Problematiken beinhaltet der Begriff Antiziganismus. Ihm liegen, so die Herausgeber/innen einleitend, „diskriminierende Strukturen und Handlungen“ zugrunde, die „das antiziganistische Konstrukt von ‚Zigeuner‘, welches in den europäischen Gesellschaften weit verbreitet und tief verankert ist“ befördern und solche ‚Zigeunerbilder’ „öffentlich in medialen Diskursen und privat in zwischenmenschlichen Beziehungen“ verbreiten und reproduzieren (S. 12). Dabei basieren die Fremdbilder von Sinti und Roma in der Regel nicht auf Erfahrungen, „sondern entstehen durch die kulturelle Vermittlung und soziale Vermittlung und Reproduktion, die unkritisch übernommen wird.“ (S. 12) Wie bei anderen Ressentimentstrukturen, ist auch beim Antiziganismus nicht die von der Diskriminierung betroffene Gruppe das Problem, sondern die sozialen Praxen und Differenzkonstruktionen der diskriminierenden Mehrheitsbevölkerung. Dementsprechend sollte zu Beginn der Thematisierung von Stereotypen und Ressentiments in Bildungsprozessen idealerweise die Auseinandersetzung der beteiligten Pädagog/innen und Lehrkräfte mit der eigenen Verstrickung in Vorurteilsstrukturen und die Erarbeitung einer eigenen Haltung zur Thematik stehen. Die Vielschichtigkeit und der Facettenreichtum der „antiziganistischen Vorurteilsstruktur“ (Markus End, S. 28) bestimmen auch den Aufbau des vorliegenden Methodenhandbuches.
Die Darstellung der Geschichte der Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum durch die Historikerin Patricia Pientka gibt einen Eindruck von der langen Geschichte der Minderheit in Europa und bemüht sich dabei diese Geschichte nicht allein auf eine Verfolgungsgeschichte zu reduzieren oder in romantisierende Bilder von musizierenden ‚Zigeunern’ zu verfallen. Der Politologe Markus End der bereits als Mitherausgeber eines Sammelbandes zu Antiziganismus auf sich aufmerksam machte, umreißt im Anschluss die „Wirkungsweise der antiziganistischen Vorurteilsstruktur“ (S. 28), deren Ursache er, adäquat zu anderen Ressentiments, darin sieht, „dass sie dazu beitragen, die eigene Gruppe und damit das eigene Selbstwertgefühl zu stärken“ (S. 29). End fragt nach dem Sinngehalt von Antiziganismus und sieht ihn vor allem in der Zuschreibung von Nicht-Identität an Sinti und Roma. Während in der Vorurteilsstruktur „die Wir-Gruppe“ ihre feste Identität aus der Identifikation mit der Nation zieht, im vorliegenden Fall also mit Deutschland, wird über jene, die als ‚Zigeuner’ stigmatisiert werden, gesagt, sie hätten keine Heimat, kein Vaterland, und zögen stattdessen nomadisierend umher. An dieser Stelle wird deutlich, dass die theoretische Auseinandersetzung mit Vorurteilsstrukturen keine akademische Übung ist. Einserseits zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen Antiziganismus und Antisemitismus – auch den Juden wurde und wird die Fähigkeit zur Staatenbildung im Motiv des ruhelos wandernden Ahasver abgesprochen, während Israel als durch Juden gegründeter Staat, in der antisemitischen Logik häufig eine vermeintlich parasitäre Struktur nachgesagt wird. Demgegenüber finden sich im Antisemitismus keine Weltverschwörungstheorien gegenüber Sinti und Roma, wie sie in der pathischen Judenfeindschaft ein zentrales Motiv sind. End veranschaulicht an einem Zitat von Friedrich Ludwig Jahn die Funktion des Nationalismus bei der Konstruktion von Gruppen: „ (N)ichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser luftiger Schemen, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden“ (Jahn 1841, zit. nach End, S. 33).
Den historischen und theoretischen Ausführungen schließt sich ein ausführlicher Teil mit Übungen für den Einsatz in der Bildungsarbeit an, das der Projektleiter Kerem Atasever sowie die Autor/innen Elisa Schmidt und Roland Wylezo verfasst haben. Das etwas knapp auf anderthalb Seiten dargestellte Gerüst des pädagogischen Konzepts zielt vor allem auf die außerschulische Bildungsarbeit. Das ist einerseits schlüssig, weil die Bearbeitung von Vorurteilsstrukturen nicht sinnvoll mit der Erzielung bestimmter durch Noten zu bewertender Lernergebnisse verknüpft werden sollte. Das Resultat wäre vor allem ein sozial erwünschtes Sprechen und weniger die Dekonstruktion von stereotypisierenden Haltungen. Wir kennen diese Problematik aus dem Bereich des schulischen historischen Lernens zum Nationalsozialismus. Außerdem sprengen viele Übungen das enge 45-minütige Korsett des Unterrichts. Demzufolge eignet sich das Methodenhandbuch für den schulischen Einsatz nur im Rahmen von Projekten. Grundsätzlich ist es bei der pädagogischen Bearbeitung von Vorurteilen richtig und sinnvoll mit handlungsorientierten Übungen den „aktiv-emotionalen“, statt ausschließlich den „kognitiv-sprachlichen Bereich“ (S. 35) von Jugendlichen anzusprechen. Die Ergebnisse einer solchen prozessorientierten Bildungsmaßnahme sind sicherlich nachhaltiger, als das Lernen hin auf ein bestimmtes Notenziel. Trotzdem vermisst man im Konzept spezifische Vorschläge, wie Lehrkräfte das Thema Antiziganismus im regulären Unterricht aufgreifen können. Hier wurde von den Autor/innen eine Chance vertan. Mit dem Hinweis, dass die Bezeichnung „Seminar“ synonym für andere Bildungssettings benutzt wird und die Bezeichnung „Seminarleitung“ als „kongruent zu Lehrer_innen, Pädagog_innen und auch Nicht-Pädagog_innen verstanden“ (S. 42) werden solle verwischen die Autor/innen unzulässig verkürzend die Unterschiede zwischen Bildungs- und Lernkonzepten und den jeweils dahinter stehenden Rollenmodellen der pädagogisch Tätigen.
Die Übungen der Handreichung sind in vier Abteilungen gegliedert und umfassen den thematischen Einstieg, die Arbeit zu historischen Hintergründen, Sensibilisierungsübungen und solche, die zur Dekonstruktion von Vorurteilsstrukturen beitragen sollen. Dabei wurde nach Möglichkeit darauf Wert gelegt, dass keine den Jugendlichen unbekannten Stereotype durch die Arbeit mit dem Material erst bekannt gemacht werden. Positiv ist zur Konzeption zudem anzumerken, dass Positionen aus der Minderheit von Sinti und Roma eingeflossen sind, indem Engagierte aus dem Verein Amaro Drom eingebunden wurden. Rund ein Drittel der Übungen wurde speziell für den vorliegenden Kontext neu erarbeitet, ein weiteres Drittel besteht aus Adaptionen von Übungen aus dem Bereich der nicht-rassistischen Bildungsarbeit und der Demokratiepädagogik, ein ungefähres letztes Drittel machen übernommene Übungen zur Gruppendynamik wie Warm-ups u.ä. aus. Eine dem Handbuch beiliegende DVD enthält Kurzfilme zum Thema Antiziganismus, zur Bedeutung der Verfolgung und massenhaften Ermordung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus sowie zwei Fernsehsendungen als Material für die Übung „Haschkuchen“.
Zusammenfassend hinterlässt das Methodenhandbuch trotz der Kritik einen positiven Eindruck. Lobenswert ist auch die Förderung des Projekts durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Zur eigenen Sensibilisierung und Methodensicherheit können bei der Jugendbildungsstätte Kaubstraße in Berlin Fortbildungen und Seminare zum Thema Antiziganismus gebucht werden.