Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Im Südwesten Berlins, an der Marienfelder Allee 66/80, liegt das ehemalige Notaufnahmelager für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Von den insgesamt rund vier Millionen Menschen, die die DDR von 1949 bis 1990 gen Westen verließen, passierten 1,35 Millionen dieses Lager.
Eingeweiht im April 1953 von Bundespräsident Theodor Heuss, diente es bis zur deutschen Wiedervereinigung der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Neuankömmlinge aus der DDR. Funktion und Lage im geteilten Berlin machten das Notaufnahmelager Marienfelde jenseits seiner Versorgungs- und Verwaltungsaufgaben zu einem zentralen Schauplatz in der wechselvollen Geschichte von Ost und West im Kalten Krieg.
Die Bedeutung Marienfeldes entsprang der politischen Brisanz der deutsch-deutschen Flucht- und Ausreisebewegung. Für die DDR und die Bundesrepublik war mit ihr immer auch die Frage nach der Stärke und Legitimation des eigenen Systems verbunden. Dabei blieben sie in ihren Auseinandersetzungen um die Flüchtlinge und Übersiedler stets eng aufeinander bezogen – schließlich war die Ab- bzw. Zuwanderung ein gemeinsamer Faktor in der Entwicklung beider deutschen Staaten, wenn auch mit je sehr unterschiedlichen Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Flucht aus der DDR war bis 1961 ein Massenphänomen, das die SED-Regierung weder durch Propaganda noch Repressionen kontrollieren konnte. Jahr für Jahr verlor das Land hunderttausende seiner Bürgerinnen und Bürger; mit den Menschen gingen ihr Wissen und ihre Arbeitskraft, ihre Kultur, ihr Aufbau- und Gestaltungswille.
Während die Flüchtlinge in der DDR als Verräter verleumdet und kriminalisiert wurden, wertete die Bundesrepublik ihre Flucht als politischen Akt. Aus ihrer Sicht bezeugte die „Abstimmung mit den Füßen“ angesichts der fehlenden Wahlmöglichkeiten in der DDR die Entscheidung der Menschen gegen die SED-Diktatur und für die westliche Demokratie.
In diesem Kampf um Deutungshoheit bot das Notaufnahmelager Marienfelde eine wichtige Arena. Als „Tor zur Freiheit“ war es im Westen Symbol für das Streben nach einer freien und geeinten Welt und ein Ort, wo der westdeutsche Staat trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten seinen politischen Willen demonstrierte, die Ostzonen-Flüchtlinge als Deutsche aufzunehmen. Im Osten hingegen galt das Lager als Lockmittel des Westens. Die SED-Regierung war offiziell nie bereit, Schwächen des eigenen Systems als Ursache der Flucht- und Ausreisebewegung anzuerkennen. Stattdessen beschuldigte sie die Bundesrepublik und die westdeutschen Medien der Abwerbung und DDR-Hetze und machte die Illusionen der Ostdeutschen vom Goldenen Westen für die Abwanderung verantwortlich.
Mit dem Bau der Mauer endete die Massenflucht aus der DDR und das Notaufnahmelager verlor einen Teil seiner symbolischen Kraft. Es wurde ruhig in Marienfelde. Für die DDR schien das Problem der Abwanderung vorerst gelöst; im Westen zogen nur noch die wenigen, oft spektakulären Fluchten – gelungen oder gescheitert – öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Ohne die geballte Menge an Menschen und Schicksalen eignete sich das Notaufnahmelager nicht mehr als Bühne für Besuche von Politikern, um ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu bekunden. Verstärkt wurde dieser Trend durch die Neuorientierung in der Deutschlandpolitik. Mit der Entspannungspolitik verlagerten sich die politischen Interessen; offene Kritik und Konfrontation erschienen nicht mehr opportun.
Dennoch blieben Flucht und Ausreise wichtige Faktoren im deutsch-deutschen Verhältnis. Viel spielte sich von nun an hinter den Kulissen ab. So gab es ab 1963 den Freikauf, ein geheimer Handel zwischen Bundesregierung und SED, durch den bis 1989 33.000 Menschen für Waren im Gesamtwert von drei Milliarden DM aus DDR-Haft in den Westen entlassen wurden.
Der Einfluss der deutschen und internationalen Politik auf die Wege in den Westen war auch im Falle der Ausreisebewegung maßgeblich. In ihrem Streben nach internationaler Anerkennung unterzeichnete die DDR 1975 in Helsinki die Schlussakte der Europäischen Sicherheitskonferenz (KSZE) und verpflichtete sich damit zur Achtung individueller Grundrechte wie Meinungs- und Reisefreiheit.Immer mehr DDR-Bürgerinnen und Bürger beriefen sich auf diese Rechte und stellten einen Ausreiseantrag, bis die Bewegung schließlich zu einem massiven innenpolitischen Problem wurde.
Mit der großen Flucht- und Ausreisewelle aus der DDR 1989/90 gerieten das Thema und das Notaufnahmelager Marienfelde erneut ins Rampenlicht der Öffentlichkeit – ein letztes Mal: Die Massenabwanderung wirkte als Katalysator der sich entfaltenden Protestbewegung in der DDR und des Mauerfalls im November 1989. Darüber hinaus beschleunigte sie entscheidend den politischen Prozess, der am 3. Oktober 1990 zur deutschen Einheit führte. Damit endete die Funktion Marienfeldes als Aufnahmelager für DDR-Flüchtlinge und Übersiedler.
Seit 2005 erinnert am historischen Ort eine Ausstellung an Ursachen, Verlauf und Folgen von Flucht und Ausreise im geteilten Deutschland. Ort, Thema und Ausstellung bieten vielfältige inhaltliche und methodische Zugänge zur deutschen Nachkriegsgeschichte bis 1990. Daraus ergeben sich besondere Chancen für die historisch-politische Bildungsarbeit:
Im Notaufnahmelager Marienfelde trafen Ost und West unmittelbar aufeinander. Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und Interessen versammelten sich hier auf engem Raum: Flüchtlinge und Übersiedler, Verwaltungsangestellte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diverser Hilfsorganisationen, Angehörige der alliierten und bundesdeutschen Geheimdienste, Spione der DDR-Staatssicherheit… Ihr Zusammentreffen an einem Ort macht den Systemkonflikt in seinen deutsch-deutschen und internationalen Dimensionen greifbar.
Von Marienfelde aus gesehen sind stets beide Seiten der innerdeutschen Grenze im Blick: die DDR, wobei die Fluchtmotive der Menschen zeigen, wie die Durchdringung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seitens des SED-Regimes auf das Leben und Handeln des einzelnen Menschen wirkte; auf der anderen Seite die Bundesrepublik, deren politische Maßnahmen und gesellschaftliche Reaktionen Bedingungen für eine gelungene (oder gescheiterte) Integration der Neuankömmlinge aufzeigen.
Der beidseitige Blick lässt erkennen, dass die Geschichte von DDR und Bundesrepublik nicht allein parallel, sondern als Beziehungsgeschichte zu begreifen ist – nicht nur auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene, sondern auch und vor allem in den Lebenswegen der Flüchtlinge und Übersiedler, deren Erfahrungen Ost und West umfassen.
Ausgehend von diesen und anderen Aspekten der Flucht und Ausreise im geteilten Deutschland lassen sich Anknüpfungspunkte zu weiterführenden, aktuellen Fragestellungen finden.
Mehr Informationen über den historischen Ort, die Erinnerungsstätte und die Bildungsangebote finden Sie unter www.notaufnahmelager-berlin.de.