In dem im Juni 2011 erschienenen Heft der vierteljährlich herausgegebenen Zeitschrift „Horch und Guck“ richtet sich der Blick auf das Thema „Sozialistisch lernen“ und damit auf das oftmals gelobte, aber in der Wirkung seiner politischen Indoktrination unterschätzte Bildungssystem der DDR. Neben den Arbeitserziehungslagern und Jugendwerkhöfen werden vor allem anhand von persönlichen Geschichten und Beschreibungen des Systems die Zerstörung des Individuums und die Kollektivierung des Einzelnen in den Bildungseinrichtungen, besonders in der Schule analysiert.
Im ersten Artikel beschreiben Maria Nooke und Henning Schluß die Entwicklungen im Bildungssystem der DDR. Über Erläuterungen zur Politisierung der schulischen Ausbildung, dem Zwang zur dreijährigen Militärausbildung und Jugendweihe für weiterführende Schulen und Hochschulen bis hin zur marxistisch-leninistischen Prägung des Geschichtsunterrichts zeigen die Autorin und der Autor, dass die Bildungschancen im sozialistischen System mit einem aktiven Bekenntnis zur staatlich-politischen Ordnung verbunden waren. Auch Jens Planer-Friedrich bezieht sich auf die Institution Schule und nähert sich mit dem Titel „Allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeiten“ dem Schulsystem und den damit verbundenen Zwängen. Dabei beschreibt er Schülerinnen und Schüler im Konflikt mit der Freien Deutschen Jugend, aber auch die Ideologisierung des Unterrichts und die Verschärfung der Kontrollmechanismen von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer oder anderer Organisationen. Zusammenfassend konstatiert er: „Keiner kam umhin, sich eingeengter Meinungsfreiheit und Repression in irgendeiner Weise zu unterwerfen“ (S. 20).
Michael Koch widmet sich einem besonderen Bestandteil des Schulunterrichts, dem Wehrunterricht. Er fokussiert sich dabei auf den internationalen Vergleich der Inhalte, die Entwicklung hin zum Schulfach und auf statistische Erhebungen, die der SED Aufschluss über die Wirksamkeit des Faches geben sollten. Die Ergebnisse sind erstaunlich, da nur etwa ein Viertel der Jugendlichen von der marxistisch-leninistischen Weltanschauung überzeugt zu sein schien. Für den Autor scheint damit das Projekt Wehrunterricht gescheitert zu sein.
„Von der Freiheit zu gehorchen“ überschreibt Hendrik Hansen seinen Artikel zu den Prinzipien des Marxismus-Leninismus und deren Rolle im Erziehungssystem der DDR. Auch er sieht eine Fehleinschätzung des DDR-Schulsystems und erläutert den Irrglauben aufgrund einer ausführlichen Analyse der ideologischen Prinzipien und deren Umsetzung. Er leitet aus der staatssozialistischen Lesart marxistischer Theorie ab: „Die Schaffung des neuen sozialistischen Menschen erfolgt also primär durch die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft und den damit verbundenen Kampf gegen die Klassenfeinde.“ (S.22) Ebenso benennt er die Ziele der sozialistischen Erziehung: Zum einen die Reduktion des Individuums auf ein Element im Kollektiv und zum anderen „die Reduktion seiner wesentlichen Tätigkeit auf die Arbeit.“ (S.23) Beide Ziele wurden im Erziehungssystem der DDR und der Sowjetunion umgesetzt. Zur Erläuterung der pädagogischen Praxis beschreibt der Autor die Grundsatzrede von Werner Dorst 1952, dem Direktor des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts. In dieser Rede entwickelte Dorst auf Grundlage der marxistisch-leninistischen Prinzipien, aber auch basierend auf den Ideen von Anton Semjonowitsch Makarenko, dem bekanntesten sowjetischen Pädagogen, seine Grundsätze zur „Erziehung der Persönlichkeit im Sozialismus“ (S.23). Die grundsätzliche Aussage lautete: „Die Persönlichkeit ist das Ergebnis einer ‚vollständige(n) Veränderung der Menschen‘, die durch die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Erziehung und die eigene Tätigkeit bewirkt wird.“ (S.24) Im Schlusssatz fordert Hendrik Hansen dazu auf, den heutigen Irrglauben an die positiven Elemente im DDR-Schulsystem abzulegen: „…deshalb kann der Blick in die DDR-Vergangenheit im Zusammenhang mit heutigen Diskussionen über Schulreformen nur dem Zweck dienen, aus der extremen Verkehrung der Pädagogik in der DDR zu lernen.“ (S.25)
Rebecca Menzel beschreibt in ihrem Beitrag die Elemente der Reformpädagogik in der DDR. Sie beginnt mit einem Abriss der Reformpädagogik in der Schule seit dem Ende des Ersten Weltkrieges und führt die Entwicklungen bis nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Besonders die Fachleute, die 1933 aufgrund ihrer reformpädagogischen Überzeugungen vom Dienst suspendiert wurden, waren nun in der Sowjetischen Besatzungszone gefragt. In den ersten Nachkriegsjahren entwickelte sich aus der Mischung von reformpädagogisch orientierten Fachkräften und Anhänger einer eher autoritär ausgerichteten Sowjetpädagogik ein offener pädagogischer Diskurs. Dieser wurde mit der Gründung der DDR 1949 allerdings beendet. Im Weiteren führt die Autorin Reformbestrebungen von Eltern und Evangelischen Kirchen gegen die ideologische Selektion zur Erweiterten Oberschule und die Militarisierung des Unterrichts aus. Die Reaktion der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften erfolgte zu spät, kurz vor der Öffnung der Mauer.
Zwei weitere Artikel beziehen sich auf die Repressionen, die in Folge des starren, ideologisierten und strengen Erziehungssystems erfolgten. Christian Sachse widmet sich dem in der Öffentlichkeit bisher kaum bekannten illegalen Arbeitserziehungslager für Jugendliche in Rüdersdorf. Dieses wurde 1966 mit der „Aufgabe einer Schocktherapie“ (S.31) eingerichtet. Die ersten Einweisungen erfolgten willkürlich aus verschiedenen Berliner Bezirken. Da kein rechtlich annähernd geordnetes Einweisungsverfahren entwickelt und die Zuständigkeit für das Lager unklar war, wurde es vermutlich 1967 geschlossen. Rahel Marie Vogel bezieht sich in ihrem Beitrag auf eine weitere Form der Repression, die sogenannten Jugend-Werkhöfe. Dies waren Orte, an denen „Schwererziehbare“ und „Kriminelle“ Jugendliche umerzogen, politisch-ideologisch geprägt wurden und in Werkstätten und der Landwirtschaft arbeiten mussten.
Einen anderen Blickwinkel auf diese Thematik eröffnet Henrik Bispinick indem er sich mit Protest und Widerstand an Oberschulen in der SBZ und der frühen DDR auseinandersetzt. Dabei stehen besonders Konflikte zwischen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und unabhängigen Schülerselbstverwaltungen im Mittelpunkt. Der Autor führt hierbei verschiedene Beispiele von Schulen, zum Beispiel an der Oberschule in Genthin (Sachsen-Anhalt), an. Es werden konkrete Widerstandsaktionen von Oberschüler/ innen gegen das SED-Regime und die sowjetische Besatzung erläutert. Die Oberschulen waren demnach in den ersten Jahren der DDR „potentielle Unruheherde“ (S.45), da viele Jugendliche skeptisch und ablehnend gegenüber dem sozialistischen Staat waren. Die SED-Diktatur reagierte darauf mit Schulverweisen, aber auch mit Haftstrafen.
Weitere Artikel beschäftigen sich mit der ideologischen Ausrichtung der Sexualpädagogik und einem Blick über die Ländergrenze hinaus auf das Hochschulwesen in Volkspolen. Neben dieser Schwerpunktthematik befasst sich das vorliegende Heft auch mit unterschiedlichen Einzelthemen zur DDR, unter anderem mit verschiedenen Lebensläufen, den Beziehungen zwischen der DDR und Vietnam in den 60er Jahren, dem westdeutschen Personal bei der Treuhand, den Streckenerneuerungen der Reichsbahn aufgrund des Mauerbaus und Doping im Leistungssport.
In den vielfältigen Diskussionen der letzten Jahre über Reformen im heutigen Schulsystem werden immer wieder Forderungen laut, sich am DDR-Schulsystem ein Beispiel zu nehmen. Oftmals werden dabei die Konflikte der Schülerinnen und Schüler mit dem System, die politische Indoktrination und die ideologische Pädagogik außen vor gelassen. Um mit dem Mythos des vorbildhaften DDR-Erziehungs- und Schulsystems zu brechen leistet die vorliegende wissenschaftliche Abhandlung wichtige Arbeit.
Die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift „Horch und Guck“ mit dem Themenschwerpunkt „‘Sozialistisch lernen‘ Die Erziehungs- und Fürsorgediktatur DDR.“ kann auf der Internetseite der Zeitschrift für 5,90 Euro zzgl. Versandkosten bestellt werden.