Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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„Wir würden gern bei Ihnen was zum Nationalsozialismus machen. Wir haben hier immer wieder Jugendliche, die Parolen gegen Muslime bringen.“ Regelmäßig melden sich Lehrerinnen und Lehrer in Gedenkstätten zum Nationalsozialismus mit Anliegen wie diesem – und sind irritiert, wenn die Mitarbeiter/innen dann erklären, dass es so einfach nicht sei. Der Richter eines Amtsgerichts in Westfalen ist zudem ehrlich verwundert: Wieder hat er es mit einem Neonazi zu tun, der wegen gewalttätiger Übergriffe auf seine Gegner angeklagt ist. Der Besinnungsaufsatz zum Thema Auschwitz, der dem Delinquenten bei einem vorherigen Prozess auferlegt wurde, scheint nicht den erhofften Erfolg gebracht zu haben.
Die sich anschließende Erkenntnis ist nicht neu. Die Konfrontation mit den Schrecken des Nationalsozialismus, sei es im Geschichtsunterricht, in Gedenkstätten oder an anderen Erinnerungsorten führt nur in den seltensten Fällen zu der erhofften Immunisierung gegen aktuellen Rechtsextremismus und Rassismus. Bereits vor einigen Jahren konstatierte etwa Jan Philipp Reemtsma provokant: „Ganz absurd wird aber das pädagogische Bemühen dort, wo Gedenkstätten etwas sein sollen, wie Orte der Umkehr […]. Was denkt man sich eigentlich? Dass einer sagt, wenn er geahnt hätte, dass man in den Lagern Asoziale umgebracht habe, dann hätte er seinerseits den Penner nicht zusammengeschlagen?“
Die Betroffenheit, die beispielsweise der Besuch einer KZ-Gedenkstätte bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen hervorruft, hält sie nicht davon ab, sich schon auf der Heimfahrt abfällig über „die Ausländer“ oder „den Islam“ zu äußern beziehungsweise Mitschülerinnen und Mitschüler zu mobben. Aktuelle gesellschaftliche Debatten, die eigene Verstrickung in alltägliche Rassismen sowie die jeweilige Sozialisation überlagern die – teils auch nur von (Gedenkstätten-)Pädagog/innen gewünschten – Erkenntnisse aus Seminarprogrammen und Gedenkstättenfahrten. Warum findet hier offenbar kein Lernen aus der Geschichte statt?
Zum einen lassen sich der erhoffte Transfer und die Abstraktion des Erlebten nicht erzwingen. Schülerinnen und Schüler fällt, gerade wenn sich die Beschäftigung vor allem auf der Ebene des Erinnerns abspielt, diese Übertragung in die eigenen Lebensverhältnisse schwer. Die Lehren aus der Geschichte werden somit nicht gezogen und auf die Gegenwart übertragen. Vielmehr bleibt die Betroffenheit auf das konkrete historische Ereignis oder den Schauplatz des Verbrechens beschränkt. Zum anderen kann der eingangs beschriebene Ansatz, nach rechtsextremen Vorfällen in Schulen und Jugendzentren oder -bildungseinrichtungen mit dem Besuch einer Gedenkstätte oder einem Zeitzeugenvortrag zum Nationalsozialismus zu reagieren, sogar kontraproduktiv wirken. Durch die Verlagerung in einen rein historischen Kontext blockiert dieser Zugang womöglich die eigentlich notwendige Auseinandersetzung mit eigenen Demokratiedefiziten und ressentimentgeladenen Selbstbildern. Eine Reflexion des eigenen Verhaltens findet also nicht statt.
Dennoch kann historisch-politische Bildung in Gedenkstätten und anderen außerschulischen Lernorten einen wichtigen Beitrag im Rahmen einer aus verschiedenen Methoden und Zugängen bestehenden Rechtsextremismusprävention leisten. Den Ausgangspunkt einer solchen Einbindung bildet die Grundannahme, dass Rechtsextremismus und Rassismus die Gleichheit der Menschen sowie die universale Gültigkeit der Menschenrechte verneinen. Ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein, das durch Multiperspektivität und grundlegende historische Kenntnisse über die Entwicklung der deutschen und europäischen Geschichte geprägt ist, trägt dazu bei, solche Ideologien der Ungleichwertigkeit und extrem rechte Geschichtsmythen in Frage zu stellen.
Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Einige Aspekte sollen hier schlaglichtartig genannt werden:
- Gedenkstätten stellen Orte dar, an denen Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes greifbar wird. Damit ist mehr und mehr aber auch der Anspruch verknüpft, nicht nur als gleichsam sakrale Stätten des Erinnerns oder als historisierende Museen zu firmieren, sondern auch und besonders einen „diskursiver Raum“ (Volkhard Knigge) zu eröffnen, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Zu nennen sind hier beispielsweise der demographische Wandel, die Ausdifferenzierung der Besucher/innen-struktur sowie das sich abzeichnende Ende der Zeitzeugenschaft.
- Dieser Anspruch ist nur einzulösen durch eine Hinwendung zu den Besucher/innen mit ihren jeweils eigenen Hintergründen, Sozialisationen, Narrationen und Erwartungen sowie der Möglichkeit, offen zu diskutieren und Antworten nicht im Sinne einer sozialen Erwünschtheit vorzugeben oder Betroffenheit zu erwarten beziehungsweise hervorrufen zu wollen.
- Bislang sind nicht zuletzt die Gedenkstätten zum Nationalsozialismus oftmals immer noch stark von den erinnerungskulturellen Kontexten ihrer Entstehungszeit geprägt, die mittlerweile teilweise mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Zu fragen wäre daher, in welchem Maße die dort präsentierten Narrationen, Gestaltungselemente und pädagogischen Angebote, den Erfahrungen, Fragen, Seh- und Hörgewohnheiten heutiger, zumal jugendlicher Besucherinnen und Besucher entsprechen. Die in Gedenkstätten vielfach gewählten biografischen Zugänge zum historischen Geschehen im Nationalsozialismus sind zwar grundsätzlich ein erfolgversprechender Weg, um die große Geschichte herunterzubrechen. Nicht selten erscheinen jedoch die Lebenswege und Handlungsmuster der in den Ausstellungen vorgestellten Biografien widerständiger Akteur/innen beispielsweise aus den Reihen der Kirche oder der Arbeiterbewegung Schülerinnen und Schülern aus ihrem heutigen Erleben oft kaum noch greifbar.
- Aus dieser Wahrnehmung entsteht, wie etwa Volkhard Knigge betont, die Notwendigkeit, von einer zunehmend ritualisierten „Erinnerung an die Vergangenheit“ zu einer „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ zu kommen. Erfolgversprechende Konzepte denken diese Auseinandersetzung von der Zielgruppe her. Sie bieten Anknüpfungspunkte, etwa anhand von forschendem Lernen im Stadtteil im Sinne des bereits in den 1970er Jahren vom schwedischen Historiker Sven Linqvist erhobenen und von der Geschichtswerkstättenbewegung aufgegriffenen Postulats: „Grabe, wo du stehst!“ Somit eröffnen sich Möglichkeiten für einen Transfer der behandelten Inhalte in die Lebenswelt und das Umfeld der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie für die Hervorhebung von Gemeinsamkeiten, etwa in der Arbeit mit heterogenen Gruppen, die über die verbindende Identifikation mit ihrer Straße eine gemeinsame Geschichte erarbeiten können.
- Die Beschäftigung mit Denkmälern (beispielsweise Ehrenmalen) bietet sich zudem an, um Geschichte auch in den Angeboten von NS-Gedenkstätten nicht nur auf die Zeit von 1933 bis 1945 zu beschränken, sondern die Vor- und Nachgeschichte sowie -wirkungen des Nationalsozialismus ebenso zu thematisieren, wie den Konstruktionscharakter von Geschichte.
- Schlussendlich gilt es, auch in außerschulischen Lernorten und Gedenkstätten eine zeitgemäße Vorstellung von Rassismus zu entwickeln, die der Konstruktion des Anderen keinen Vorschub leistet, sondern die Herausforderungen und Chancen der Migrationsgesellschaft annimmt. Notwendig scheint hier zudem, die Verengung des Rassismusbegriffs auf die NS-Zeit aufzubrechen und die Entstehungsgeschichte bis heute wirkmächtiger Bilder aus der Kolonialzeit in den Blick zu nehmen, um einen Beitrag zu deren Dekonstruktion zu leisten. Dabei ist es unabdingbar, mögliche Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen von Besucher/innen sowie die damit einhergehenden Auswirkungen auf die jeweiligen Geschichtsbilder zu reflektieren.
Insofern stellt sich für viele Gedenkstätten in Deutschland die Herausforderung, Präsentationsformen und pädagogische Angebote den vielstimmigen Erfahrungshorizonten der Einwanderungsgesellschaft anzupassen. Bislang erscheint die Erinnerungskultur als vorwiegend spezifisch deutsch.
Die Beschäftigung mit Rassismus und aktuellem Rechtsextremismus kann also nicht nur aus einer historischen Perspektive vollzogen werden. Historisch-politische Bildung kann aber als ein Bestandteil umfassender Präventionsbemühungen und unter den oben genannten Voraussetzungen zu einer fundierten Auseinandersetzung beitragen.