Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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In der deutschen Politik wird in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus bis heute die These vertreten, dass umfangreiches Wissen über die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft immun mache gegen Antisemitismus, Rassismus und jede andere Art von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Besonders die Gedenkstätten spielen in dieser Argumentation eine besondere Rolle: Ein mehrtägiger Besuch in Auschwitz mache doch jeden zum erklärten Antifaschisten.
Wie kam es überhaupt zur Einrichtung von Gedenkstätten in der Bundesrepublik? Nach Jahrzehnten des Verschweigens und Nichtsehenwollens in der jungen Bundesrepublik wird erst seit den 60iger Jahren intensiver an die eigene verbrecherische Vergangenheit der NS-Zeit erinnert. Relativ spät kam es daher zur Einrichtung von Gedenkstätten. Die 1965 in Dachau errichtete Dauerausstellung konfrontierte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit erstmalig damit. Zwar existierte bereits seit 1952 in der Gedenkstätte Plötzensee ein Dokumentationsraum, dies ist aber einer Erinnerungsstätte an den bürgerlichen deutschen Widerstand und weniger eine Erinnerungsstätte an deutsche Verbrechen. Nach langen und zum Teil heftigen politischen Auseinandersetzungen sind erst seit den 1980er Jahren die Gedenkstätten – ihre Errichtung und ihr Betrieb – ein anerkannter Sektor der Kulturpolitik. Inzwischen gilt die Arbeit in den Gedenkstätten und insgesamt das Vergegenwärtigen der von Deutschen begangenen Verbrechen während der NS-Herrschaft international als vorbildlich.
Dennoch: Trotz dieser intensiven Arbeit hält sich auch weiterhin rechtsextremes Gedankengut in unserer Gesellschaft. Dies reicht von rassistischen Äußerungen am Stammtisch über offen rechtsextreme agierende Gruppen bis hin zu den Terroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). 2010 zählt der Verfassungsschutzbericht des Bundes über 16.000 Straftaten der rechtsextremen Szene, die bundesweit auf etwa 25.000 Personen geschätzt wird. Die renommierte Amadeu Antonio Stiftung weiß aktuell von 182 Todesopfern rechter und rassistischer Gewalt seit 1990 zu berichten.
Zudem zeigen neuere Untersuchungen zu rassistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Einstellungen in der deutschen Gesellschaft, dass mehr als 10 Prozent der deutschen Bevölkerung ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Bei den Einzelfelduntersuchungen des Bielefelder Instituts von Wilhelm Heitmeyer über „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ liegen die Zahlen sogar weit über 20 Prozent.
Übernimmt man die eingangs genannte These aus der politischen Diskussion, dann widersprechen sich die zwei oben ausgeführten Tendenzen. Auf der einen Seite stehen die nicht nur in Gedenkstätten, sondern auch in den Schulen und allen Medien präsentierten dichten Informationen zum Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. Auf der anderen Seite steht eine gegenüber Minderheiten abwertende Haltung in breiten Kreisen der Bevölkerung und zudem eine öffentlich agierende rechtsextreme Szene.
Es stellt sich folglich die Frage, ob Gedenkstätten mit Ihrer Arbeit gescheitert sind. Dem ist eindeutig zu widersprechen. Vielmehr trägt die Gleichung „mehr Wissen über den Nationalsozialismus = weniger Rechtsextremismus“ nicht. Denn damit wird die Arbeit in den Gedenkstätten und im Grunde die gesamte historische Forschung überfrachtet.
Vielmehr zeigt die Aufklärungsarbeit in den Gedenkstätten in zweierlei Hinsicht Wirkung. Sie hat es zwar nicht geschafft abwertende und ausgrenzende Einstellungen gegenüber Minderheiten in unserer Gesellschaft zu eliminieren, aber die Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus hat doch dazu geführt, dass rechtsextreme und offen rechtspopulistische Parteien in Deutschland zur Zeit keinen wirklichen politischen Einfluss haben. Oder anders ausgedrückt: Auch wenn man rechtsextreme Einstellungen hat, wählt man in der Regel nicht die dazu passende Partei.
Doch sehen die Gedenkstätten ihre Aufgabe weit darüber hinaus. Bis in die 1990er Jahre beschäftigten sie sich in erster Linie mit Opfern der NS-Gewaltherrschaft. Seit einigen Jahren findet ein Perspektivwechsel statt, denn auch die Biographien und Motivationen der Täter stehen jetzt im Blickpunkt der Arbeit. Mit Täterprofilen wurde die breite Öffentlichkeit vor allem durch die Goldhagen-Debatte und die Wehrmachtsausstellung erstmals konfrontiert.
Zudem muss in der Arbeit der Gedenkstätten deutlich die verantwortliche Rolle der einfachen Deutschen an NS-Verbrechen klar gemacht werden. Nach allem, was derzeit bekannt ist, führte nicht ein weitgreifender ideologischer Fanatismus oder eine Massenpsychose zur Akzeptanz des sich immer deutlicher abzeichnenden Holocausts. Viel mehr waren es vier Dinge, die für die Planung und Durchführung der Shoah völlig ausreichend waren: Ein verbreitetes Desinteresse und die kaum vorhandene Einsicht, dass der Schutz von Minderheiten ein zentraler Wert einer Gesellschaft ist, Abstumpfung und Verdrängung.
Dies zeigt, wie die nationalsozialistische Herrschaft, der größte Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte, möglich war: Durch Mitmachen, Wegschauen und Ignorieren. Die Fragilität von Zivilisation wird dadurch erkennbar. Und diese Fragilität deutlich zu machen, ist ein wichtiges Arbeitsfeld von Gedenkstätten.
Zudem ist eine wichtige Aufgabe gerade der lokalen Gedenkstätten, den Besucherinnen und Besuchern zu verdeutlichen, dass der Holocaust nicht ein Phänomen ist, der sich nur auf polnischem oder belarussischem Gebiet abspielte. Er geschah unmittelbar vor der eigenen Haustür. Es ist nicht weit zu einem Sammelpunkt für die Deportation der jüdischen Mitbürger/ innen, einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager, einem KZ-Außenlager oder einer Folterkammer der Gestapo.
Zum Ende noch ein Wort zu den organisierten, sich offen bekennenden Rechtsextremen. Besonders absurd ist der Versuch, Gedenkstätten zu Orten der Umkehr zu machen. Menschen, die sich in Diskriminierung, Schikanieren und Quälen hervorgetan haben, sollen lernen, wo das alles hinführen kann?
Es kann nicht ernsthaft geglaubt werden, dass ein rechtsextremer Straftäter einen Obdachlosen am Bahnhof nicht zusammengeschlagen hätte, wenn er gewusst hätte, dass in nationalsozialistischen Lagern sogenannte Asoziale umgebracht wurden. Oder um die Frage von Wolfgang Thierse zu beantworten: Man muss es nicht lernen, dass man Menschen nicht anzündet. Man weiß das. Und wenn man es nicht weiß, lernt man es auch nicht mehr. Sondern man lässt es hoffentlich, wenn man damit nichts mehr zu gewinnen hat, auch keinen heimlichen Beifall, und nur seine Freiheit auf Spiel setzt.