Das dem Band zugrunde liegende Projekt wird seit 2006 am Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg realisiert. Angelegt auf neun Bände, an denen 130 Autor/innen aus fünf Ländern beteiligt waren, stellt es ein wohl präzedenzloses Beispiel für die Vitalität des deutsch-polnischen Wissenschaftsdialoges dar. In ihrer Einleitung verorten die Herausgeber Hans Henning Hahn und Robert Traba das Projekt in der europäischen Forschungsdebatte über das kollektive Gedächtnis. Ziel sei es, neben der weiteren Arbeit an theoretischen Begriffen auch einen Beitrag zum besseren Verständnis der deutsch-polnischen Geschichte zu leisten.
Grundlage des Projektes ist der Begriff der Erinnerungsorte, der seit den 1990er Jahren eine bedeutsame definitorische Erweiterung erfahren hat. Von einem ursprünglich auf nationale Identität ausgerichteten Verständnis wurde es zu einem zunehmend grenzüberschreitend gedachten Konzept. Damit einhergehend entwickelte sich eine vieldeutige Bestimmung des Begriffs der Erinnerungsorte, denn diese können sowohl „materieller wie immaterieller Natur“ (Hagen Schulze/Etienne François) sein. Der „Ort“ wird also als Metapher, als Topos verstanden und somit etwas breiter als in der Umgangssprache, die Erinnerungsorte meist ausschließlich mit Gedenkorten und Denkmälern gleichsetzt. Die Herausgeber heben ebenfalls hervor, dass Geschichte und die Erinnerung an Geschichte nicht notwendigerweise miteinander identisch sein müssen. Damit ist ein erster Schritt getan, um auf die Dynamik erinnerungskultureller Prozesse hinzuweisen. Das polnische oder das deutsche kollektive Gedächtnis an sich gebe es nicht, denn es müsse jeden Tag aufs Neue konstruiert werden, so Traba und Hahn. Ebenso variabel und interessengeleitet sei der Begriff der Identität, welcher gleichsam wie ein Label ein Wir vom Anderen trennt und so Gruppen erst erschafft. Um in der Fülle sich wandelnder Prozesse dennoch wissenschaftlich abgesicherte Fakten zu erhalten, seien die Erinnerungsorte besonders geeignet, wenn man sie als Verdichtung kollektiver Identitäten verstehe. Für die Historiker/innen steht folglich auch stets die gegenwartsbezogene Funktion des Erinnerns im Vordergrund oder anders: Welchen Zweck beabsichtigt jemand mithilfe der Erinnerung an ein historisches Ereignis oder an eine Gestalt?
Der vorliegende dritte Band der Reihe widmet sich den parallelen Erinnerungsorten und dient als eine Art Appetizer für die weiteren Bände, die gemeinsame und geteilte Erinnerungsorte behandeln. Die deutsche und polnische Geschichte sind miteinander seit dem Mittelalter zum Teil eng verwoben, so dass die Herausgeber Deutsche und Polen als „erinnernde Beziehungspartner“ bezeichnen (S. 14). Konsequenterweise untersuchen die Autor/innen im grenzüberschreitenden Vergleich, wo und wann welche Bezüge auf den Nachbarn in Polen bzw. in Deutschland hergestellt wurden und zu welchem Zweck. Unter parallelen Erinnerungsorten verstehen die Herausgeber „Erinnerungsorte, die nur in der einen Gesellschaft vorkommen und in ihr eine spezifische Funktion für deren Identitäts- und Erinnerungshaushalt erfüllen“ (S. 17). Diese werden dann Erinnerungsorten in der anderen Gesellschaft gegenübergestellt, die dort eine vergleichbare Funktion erfüllen. Die genaue Untersuchung beabsichtigt, Unterschiede und Ähnlichkeiten zu analysieren, um deutsch-polnische Verflechtungen herauszuarbeiten. Im ersten Teil des vorliegenden Bandes stehen topographische Erinnerungsorte im Mittelpunkt, im zweiten Teil dann weitere Texte in chronologischer Reihenfolge. Durch eine kurze Einführung in den historischen Hintergrund eines jeden Erinnerungsortes eignet sich der Band ebenfalls zum gezielten lexikalischen Nachlesen einzelner Beiträge.
Das Experiment der parallelen Betrachtung leuchtet zum Teil sehr schnell ein, beispielsweise im Text von Beata Halicka über Rhein und Weichsel als Verkörperung des Nationalgeistes oder in Heinrich Olschowskys Vergleich von Johann Wolfgang von Goethe und Adam Mickiewicz als deutscher bzw. polnischer Nationaldichter. Ebenso interessant ist die Analyse der beiden Nationalhymnen von Robert Rduch. Bei anderen Beispielen wird das Konzept der Parallelität auf ungewöhnlichere Themenpaare angewandt, beispielsweise beim Vergleich des Briefes der polnischen Bischöfe mit dem Kniefall Willy Brandts von Corinna Felsch und Magdalena Latkowska. Einen Beleg für die europäische oder gar weltgeschichtliche Dimension deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte stellt Włodzimierz Borodziejs Beitrag über Versailles, Jalta und Potsdam dar.
Die Herausgeber betonen, dass sie sich nicht nur an ein wissenschaftliches Fachpublikum richten. Das Projekt Deutsch-Polnische Erinnerungsorte soll auch den Kreis interessierter Leser/innen mit und ohne Vorkenntnisse über die deutsch-polnische Geschichte erreichen. Dass das Heraustreten aus der deutsch-polnischen Fachnische möglich ist, erscheint auch deshalb denkbar, weil die Auswahl der parallelen Erinnerungsorte viele Ansätze zur Diskussion bietet. So reicht das Spektrum der Texte von Politik- und Militärgeschichte, über Literatur, Musik und Sport. Aber auch Komisches und Abseitiges findet Platz. Es ist gerade diese mutige Erweiterung eines allzu akademischen Verständnisses von Erinnerungskultur, die das Schmökern in diesem Band zu einem Vergnügen macht. Auch in der historisch-politischen Bildungsarbeit können die kurzen Texte von 10 bis 15 Seiten eine gute Grundlage zur Diskussion bieten. Dem vorliegenden, aber auch den im Jahresverlauf erscheinenden Bänden sind trotz des stolzen Preises von 58 € ein breites Publikum zu wünschen.