Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Zwangsmigrationen. Im Bewusstsein der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird dieser Begriff zumeist mit Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Doch er bezeichnet tatsächlich viele unterschiedliche Ereignisse, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in vielen Regionen Europas stattfanden. Die komplexen Vorgänge umfassen dabei beispielsweise die ersten planmäßig angelegten Zwangsumsiedlungen im Kontext der Balkankriege 1912-1913, den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges, Zwangsarbeitereinsatz und Fluchtbewegungen im Zweiten Weltkrieg, Zwangsumsiedlungen am Ende des Krieges bis in die fünfziger Jahre hinein sowie Flucht und Vertreibungen im Zuge der Auflösung Jugoslawiens in den 1990er Jahren. Zwangsmigrationen sind also ein gesamteuropäisches Phänomen des 20. Jahrhunderts, das eine offenere Perspektive als eine Reduzierung auf bundesdeutsche Erinnerungen erzwingt und ermöglicht.
Die deutsche Einwanderungsgesellschaft umfasst Menschen verschiedener ethnischer und politischer Gruppen, deren historische Vorbildung oder persönliche Erfahrungen von diesen unterschiedlichen Prozessen geprägt sind. Geschichtslernen in heterogenen Gruppen muss auch die Perspektive eines Lernenden mit italienischem Hintergrund auf die gewaltsame Aussiedlung der Italiener aus Slowenien oder die eines Lernenden auf die Jugoslawienkriege, dessen Familie in eben diesem Zusammenhang in den neunziger Jahren nach Deutschland flüchtete, mit ein schließen.
An dieser Stelle sollen einige Internetportale vorgestellt werden, die sowohl dem historischen Lernen zu erzwungenen Wanderungen im 20. Jahrhundert eine internationale Perspektive hinzufügen, als auch deutsche Migrationsgeschichte seit den fünfziger Jahren in Form von Audiodokumenten erschließen.
“The Unwanted“ ist eine Online-Dokumentation über Umsiedlung, Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Durch erzählte Lebensgeschichten wird das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen nachgezeichnet. Die Dokumentation umfasst dabei Interviews, Quellen und Materialien zu Griechenland und der Türkei in den zwanziger Jahren, Deutschland und Polen in den vierziger Jahren sowie Bosnien-Herzegowina in den neunziger Jahren. Besonders wertvoll für die Bildungsarbeit ist ein umfangreiches Lernportal, das mit den Audiointerviews arbeitet und Arbeitsaufträge über Ursachen, Zusammenhänge und Folgen von Flucht, Vertreibung und "ethnischer Säuberung" im 20. Jahrhundert enthält. Lernen aus der Geschichte hat das Lernportal bereits ausführlich in einem Beitrag vorgestellt.
Das Internetportal Migration Audio Archiv widmet sich nicht nur Erfahrungen von Zwangsmigration, sondern bietet Erzählungen im Audioformat von Migration nach Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es hat seit dem Projektstart 2004 bereits die politisch, wirtschaftlich oder persönliche motivierte Flucht- oder Migrationsgeschichte von über 120 Menschen aufgezeichnet und stellt diese auf der Unterseite Audioweb zur Verfügung. Die Interviews liegen in der Originalaufzeichnung, ungeschnitten und in sehr guter Tonqualität vor und werden von biographischen Texten und Fotos begleitet. Außer auf der Webseite werden die Interviews in Kooperation mit dem Medienpartner WDR im Hörfunk veröffentlicht und es besteht außerdem die Möglichkeit, so genannte Audiolounges mit den Erzählungen beispielsweise für Ausstellungen oder als eigenständige Installationen auszuleihen. Für die Bildungsarbeit bieten die Interviews ein sehr heterogenes Material in hervorragender Qualität, das aber leider nicht didaktisiert aufgearbeitet wurde.
Ein ähnliches Projekt dokumentiert die Seite Aus-Ein-Wandern. Das Projekt „Geschichten des Aus- und Einwanderns“ ist ein Programm der Jungen Volkshochschule Hamburg, mit dem Hamburger Jugendliche zur Reflexion über unterschiedliche Migrationserfahrungen angeregt werden sollen. Im Rahmen des Projektes wurden Interviews mit Menschen mit Zuwanderungserfahrungen geführt, die stellvertretend für die Migrationsgeschichten vieler Menschen stehen. Die Seite bietet die Möglichkeit, Zeitzeugenberichte als Audio-Dateien oder in schriftlicher Version zu rezipieren. Eine Kurzzusammenfassung der Interviews sowie eine Fotografie zu jeder Geschichte geben einen Überblick über die Zeitzeugenberichte. Die interviewten Menschen stammen vor allem aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern, der Türkei und Afghanistan. Die Junge VHS Hamburg bietet außerdem an Schulen und in Jugendeinrichtungen moderierte Workshops für Jugendgruppen ab Klassenstufe 7 an, in denen es u.a. um eine kreative Umsetzung der Zeitzeugenberichte sowie um eine Reflexion über unterschiedliche Migrationserfahrungen geht.
Das Projekt „Erzählen gegen den Krieg“ des Berliner südost e.V. will einen geschützten Rahmen bieten, in dem Ereignisse aus gesellschaftlichen Krisensituationen sowohl persönlich erzählt als auch fachlich erklärt werden können. In der Atmosphäre eines Kaffeehauses erfahren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von jeweils zwei Zeitzeugen, wie Menschen Kriegssituationen erlebt und verarbeitet haben. Die Erzählende sind Überlebende des Zweiten Weltkrieges, der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren und aus heutigen Konflikten. Über die unterschiedlichen Kriegsschauplätze und Epochen hinweg zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den persönlichen Biographien. Der Austausch wirkt generationenübergreifend – über religiöse, nationale und sprachliche Grenzen hinweg. Um die persönlichen Erlebnisse der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einordnen zu können, vermitteln Experten in Vorträgen, die das Erzählen ergänzen und vertiefen, Fachwissen über geschichtliche, soziologische und politische Hintergründe.
Der nächste Termin einer „Erzählen-gegen-den-Krieg“-Veranstaltung findet am 14. Dezember 2011 statt. Weitere Termine entnehmen Sie der Homepage des Vereins.
Ebenfalls von der Sicht deutscher Geschichte als Nationalgeschichte rücken die Materialien „Mehrheit, Macht, Geschichte – 7 Biografien zwischen Verfolgung, Diskriminierung und Selbstbehauptung“ ab. Die authentischen Lebensgeschichten vermitteln, wie Diskriminierung, Verfolgung und Krieg erlebt wurden. Der zeitgeschichtliche Rahmen beschränkt sich nicht nur auf die Epoche des Nationalsozialismus, sondern umfasst Beispiele aus der Zeit des Kolonialismus, der Gegenwart sowie Verfolgungsschicksale, die im Geschichtsunterricht bisher vernachlässigt wurden. Die Materialien wurden in einem Beitrag von Lernen aus der Geschichte bereits vorgestellt.