Beitrags-Autor: AHomann Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Der Staatsterror der argentinischen Militärdiktatur der 70er und 80er Jahre brachte Tausende von Verschwundenen mit sich. Als Geschichtslehrerin an der Sekundarstufe San Gabriel in Vicente López, einem Vorort der Hauptstadt Buenos Aires, mußte ich entdecken, das unter den Jugendlichen eine große Unkenntnis herrscht, was diesen doch zeitnahen Zeitabschnitt der jüngsten Geschichte betrifft. Die Mehrheit der Schüler hatte zu Hause nie über das Thema gesprochen. Daher starteten wir ein sogenanntes Erinnerungsworkshop mit mehreren Zielen: diese jüngste Geschichte aufzuarbeiten, einen Dialog in den Familien auslösen, Bewußtsein zu schaffen über die vielfältigen Erinnerungen und die unterschiedlichen Sichtweisen.
Im Rahmen dieses Workshops arbeiten Schüler der 11. und 12. Schuljahre in Kleingruppen zusammen, um Zeitzeugenberichte aufzunehmen und auszuwerten. Im Sinne der Oral History geht dieses Projekt von der Überzeugung aus, dass die Bürger/innen zur Stimme kommen müssen, die damals die Akteure der geschichtlichen Ereignisse gewesen sind: ohne geschichtliches Bewußtsein ist nämlich keine Auseinandersetzung mit der Gegenwart möglich. Im Klassenzimmer werden die geschichtlichen Inhalte vermittelt, wobei auch die aktuellen Diskussionen der Geschichtswissenschaft thematisiert werden.
Da wir im Vorfeld entdeckt hatten, das viele Jugendlichen der Auffassung sind, die politische Gewalt sei 1975 mit dem Militärputsch ex nihilo entstanden, haben wir für unser Vorhaben den Zeitabschnitt 1966-1983 gewählt. Durch die Auseinandersetzung mit der politischen Entwicklung soll vermittelt werden, dass der Staatsterror der Höhepunkt einer zunehmenden Eskalation der politischen Gewalt gewesen ist.
In einer ersten Phase erarbeiten die Schüler die Fragen, die sie aufgrund ihrer Arbeitsthesen stellen wollen. Es wird immer wieder betont, dass diese Fragen eigentlich nur ein Leitfaden sein sollen, um auf das Schweigen oder eventuelles Vergessen der Gesprächspartner reagieren zu können – das Gespräch soll keineswegs zu einem Verhör werden. Die zu stellenden Fragen beziehen sich auch auf persönliche Erlebnisse, Anekdoten und Deutungsmuster. Auch auf Reinterpretationen wird geachtet: da wir in diesem Projekt mit der Erinnerung lebender Personen arbeiten, wissen wir, dass der Zeitabstand oft dazu führt, dass vergangene Situationen unterschätzt oder idealisiert werden. Daher werden die Zeitzeugen gegen Ende des Gesprächs um einen Vergleich der besprochenen Phase mit der Gegenwart gebeten.
Als eins unserer Lernziele geht es uns um die Vermittlung der Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit historischer Erinnerung immer Interpretationskonflikte mit sich bringt. In der praktischen Arbeit mit den Zeitzeugen begreifen die SchülerInnen die genaue Reichweite dieses Konzeptes, das im Klassenzimmer immer wieder theoretisch angesprochen worden ist. So entdeckten zwei Schüler einer selben Klasse, dass ihre Väter beide persönlich an einem Wendepunkt der argentinischen Geschichte - dem 1. Mai 1973, als Perón die linke Gruppierung Montoneros von der Plaza de Mayo verwies, womit diese in den Untergrund ging - teilgenommen hatten, allerdings gehörten sie damals entgegengesetzten politischen Richtungen an.
Die Schüler/innen waren auch beeindruckt von der Erkenntnis, dass viele Befragte die Gewalt der 70er-80er Jahre einfach verneinten: so hat etwa eine Großmutter einer der Schüler schlicht verneint, dass es je Guerrilla-Anschläge im Stadtviertel gegeben hätte.
Das Projekt wurde 1999 in der Geschichtslehrertagung der Universidad de Morón vorgestellt. Daraus entwickelte sich ein Lehrerfortbildungsworkshop zum Thema „Einsatz von Oral History im Klassenzimmer“, das vom Kultusministerium der Stadt Buenos Aires durchgeführt wurde. Neben den pädagogischen Zielsetzungen geht es hier auch um ein geschichtswissenschaftliches Ziel: durch die Erarbeitung der Oral History und der Lokalgeschichte soll erforscht werden, wie sich der Staatsterror im Stadtraum je nach Sozialstruktur unterschiedlich auswirkte, so dass eine geschichtliche Topographie entsteht.