Ethik der Erinnerung - Bewahrung der Zeugenschaft und die Rolle der Nachkommen
Einladung zur Diskussion, Austausch und gemeinsamen Verständigung mit Nachkommen von NS-Überlebenden, Vertreter*innen verfolgter Minderheiten und erinnerungspolitisch Interessierten, durch das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) in Kooperation mit dem Bildungsportal „Lernen aus der Geschichte“ (LaG).
Erinnerung erfordert nicht nur Gedenken, sondern aktive Zeugenschaft, denn aus der Vergangenheit allein und der Beschäftigung mit der Geschichte entspringt noch kein verantwortliches Handeln in der Gegenwart. Zeugenschaft ist dabei kein abstraktes Prinzip, vielmehr beleuchtet es konkret die Gegenwart aufs Neue aus seiner Geschichtlichkeit heraus. Notwendig ist die Bereitschaft zur Übernahme einer ethischen Verantwortung in der Gegenwart als Vermächtnis aus der historischen Erfahrung.
Vor diesem Hintergrund spricht die polnische Philosophin Dr. Katarzyna Liszka von der Universität Wrocław von der Möglichkeit einer „decent memory“, die mit einer ethischen Verpflichtung einhergeht.
Am 14. Juni 2021 wandten sich Überlebende deutscher Konzentrationslager, Juden*Jüdinnen, Rom*nja und ihre Nachkommen mit einem öffentlichen Brief an die Bundesregierung. Darin fordern sie strukturelle Einbindung der Interessensverbände der NS-Überlebenden der Shoah und des Holocaust an den Sinti und Roma und anderer NS-Verfolgten und ehemaligen antifaschistischen Widerstandskämpfer*innen sowie ihrer Nachkommen, bei der Errichtung eines „Erinnerungsortes für die Opfer deutscher Besatzungsherrschaft in Polen“ sowie einer „Dokumentationsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft“.
Der Brief wurde auf http://www.bearing-witness.net/ veröffentlicht und wird auch hier dokumentiert (s. "Download").
Der Brief enthält darüber hinaus den Aufruf zur Aufnahme einer breiten Diskussion über die zukünftige Rolle der jungen Generation der Nachkommen bei der Bewahrung der Zeugenschaft in Europa und in der Welt, wenn die letzten Überlebenden verstummen. „Dies gebietet das Gedenken an die Opfer des Holocaust und aller Opfer des deutschen Besatzungsterrors in Europa und in der Welt und ist grundlegend dafür, dass künftige Generationen zur Freiheit von Rassismus und Hass, Achtung der Rechte von Minderheiten und Verteidigung der gemeinsamen Werte gesellschaftlicher Vielfalt, der Demokratie, der Solidarität und der Mitverantwortung für andere Menschen heranwachsen können.“
Das LaG-Portal möchte diese Anregung gemeinsam mit dem IKBD aufgreifen und zu einem Austausch von Pädagog*innen, Gedenkstättenmitarbeiter*innen, Historiker*innen und Ethiker*innen einladen. Wir werden uns bemühen nach Möglichkeiten Debatten-Beiträge ins Deutsche zu übersetzen und hoffen damit einen Beitrag zur Stärkung des Dialogs über diverse Perspektiven des Erinnerns in Europa leisten zu können.
Wir ermuntern insbesondere Nachkommen der NS-Verfolgten in Europa an der Debatte teilzunehmen. Teilt mit uns Eure Erfahrungen und schickt uns Eure Gedanken zu dem Thema:
Was ist Zeugenschaft und wer definiert sie? Sind Nachkommen der NS-Verfolgten Objekte oder Subjekte der Erinnerungsarbeit? Welche Rolle können oder sollen Nachkommen von NS-Verfolgten bei der Bewahrung der Zeugenschaft spielen? Wie kann Erinnerung ohne das Zeugnis der „moral witness“, der Überlebenden, in Zukunft in Gedenkstätten durch pädagogische Vermittlungsarbeit bewahrt werden? Vor welchen Herausforderungen und Gefahren steht Zeugenschaft angesichts der Rituale und Konjunkturen staatlicher Geschichtspolitik in Europa?
Welche Ambivalenzen oder Aporien der Zeugenschaft können entstehen? Welche Erfahrungen haben Nachkommen der NS-Verfolgten als Black, Indigenous, People of Color in ihrer Erinnerungs- und Gedenkarbeit gemacht? Welche Bedeutung hat Divers-Kulturalität für Nachkommen in Migrationsgesellschaften? Welche Rolle spielen dabei Erinnerungen an die NS-Verfolgung als Bezugspunkte um gegen aktuelle Ausgrenzungspraktiken und Diskriminierungen vorzugehen? Welchen Beitrag leisten Nachkommen mit divers-kulturellen Hintergrund zur Bearbeitung von verwobenen Erfahrungen kolonial-rassistischer Verfolgung im NS und deren gesellschaftlichen Nachwirkungen? Welche Erfahrungen haben Nachkommen im Umgang mit rassistischer Gewalt und Diskriminierungen der sog. Baseballschlägerjahre gemacht? Welche Strategien der Bearbeitung der persönlichen und familiären Erfahrungen und Traumata erarbeiten Nachkommen gegenüber Alltags-Rassismus? Welche Erfahrungen haben Nachkommen im Kampf gegen fehlende Anerkennung als politisches Subjekt der Erinnerungsarbeit innerhalb etablierter Gedenk-und Erinnerungsstrukturen gemacht?
Welchen Beitrag leisten Nachkommen heute in der erinnerungspolitischen Bildungsarbeit, im Bereich der psychosozialen oder humanitären Unterstützung der Überlebenden und Angehörigen?
Kamil Majchrzak
Nachkomme, Mitglied im Vorstand des Internationalen Komitee-Buchenwald-Dora (IKBD)
Ingolf Seidel
Projektleiter Lernen aus Geschichte