Flüchtlinge und Heimatvertriebene
Von Gerit-Jan Stecker
Fast 40 Prozent aller Einwohner_innen Nürnbergs haben ihre Wurzeln im Ausland. Die Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg setzte mit den Flüchtlingen und „Heimatvertriebenen“ ein. Der Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität Nürnberg hat zusammen mit Schüler_innen der neunten bis zwölften Klasse zur Migrationsgeschichte ihrer Stadt recherchiert, gemeinsam haben sie sich mit Fragen der Quellenkritik, der Methode und der Inventarisierung historischer Dokumente beschäftigt. Die aufgespürten Dokumente sollten – mit Einverständnis der Besitzenden – in die Sammlung des Museums Industriekultur und ins Stadtarchiv eingegliedert werden, das Projekt damit am Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses mitwirken.
Eines der Ergebnisse ist ein Heft mit Lehrmaterialien „Migrationsgeschichte – Sammeln, sortieren, und zeigen“. Es differenziert zwischen verschiedenen Migrationsbewegungen und deren Motiven, geht auf Methoden wie z. B. Oral History ein. Nicht zuletzt verharrt das Projekt nicht in der historischen Perspektive, sondern initiierte Begegnungen zwischen Klassen mit Geflüchteten Jugendlichen und Gymnasialklassen. Das Heft kann als PDF vollständig oder in einzelnen Kapiteln heruntergeladen werden.
Auf eine kurze Einleitung zum Aufbau der Materialien und zur historischen Projektarbeit folgt als erstes inhaltliches Kapitel eine geleitete Internetrecherche zu Flucht und Vertreibung nach 1945 unter dem Titel „Flüchtlinge und Heimatvertriebe“.
Im Unterricht
Die Unterrichtseinheit beginnt mit einem kurzen Abriss zum Verlauf von Flucht und Vertreibung zwischen 1944 und 1947, dem Potsdamer Abkommen sowie einem Abschnitt zur Zuwanderung von Flüchtlingen und Vertriebenen während des Wirtschaftsbooms in Nürnberg zwischen 1955 und 1973. Diese Einführung stützt sich auf eine kleine, recht aktuelle Bibliographie von Matthias Beers „Flucht und Vertreibung der Deutschen“ über die LaG-Ausgabe 08/10 mit dem Titel „Grenzverschiebungen“ bis Maren Rögers Untersuchung zur Erinnerungskultur seit 1989. Es fällt jedoch auf, dass vor allem relevante Faktoren für die Flucht nicht genannt werden: weder die von den Nationalsozialisten selbst durchgeführten Zwangsevakuierungen, noch die bis heute wirksame und gegen aktuelle Forschungsergebnisse resistente Propaganda Goebbels' von den vermeintlichen Gräueln der Roten Armee (erinnert sei an das wissenschaftlich widerlegte „Massaker von Nenndorf“, das bis heute die Bilder im Vertreibungsdiskurs füttert) und das latente Bewusstsein, dass die deutschen Verbrechen in Osteuropa ein starkes Rachebedürfnis besonders innerhalb der Roten Armee wecken müssen.
Anschließend erfolgt der Einstieg in den eigentlichen Unterricht. Die Einheit ist über zwei Stunden angelegt. Ziel ist es, die Begriffe Flucht und Vertreibung differenziert betrachten zu können und den methodische Umgang mit verschiedenen Quellen zu einzuüben. Die erste ist ein ZDF-Kurzfilm zum Thema, der einen Überblick über die Phasen von Flucht und Vertreibung liefern soll (auch hier ist zu bemängeln, dass die Sowjetischen Alliierten als vollkommen rücksichtslos beschrieben wird und eine Kontextualisierung fehlt).
Danach erarbeiten die Schüler_innen in vier Kleingruppen kurze Präsentationen zu den Themen „Die große Flucht“, Potsdamer Konferenz, „Wilde und systematische Vertreibungen“ und „Einleben in der neuen Heimat“ Bayern. Jede Gruppe erhält zwei bis drei Internetquellen. Die Links zu den Zeitzeug_innenberichten auf LeMO, dem „Lebendigen Museum Online“ des Deutschen Historischen Museums, sind nach dem Relaunch der Webseite, nicht mehr aktuell, lassen sich jedoch einfach auf der LeMO-Seite finden. Weitere Internetquellen, auf die häufiger zurückgegriffen wird, sind planet-wissen.de der ARD und das Historische Lexikon Bayerns.
Beitrag zum historischen Lernen
Das Unterrichtsmaterial liefert einen lebendigen Überblick zum Themenkomplex Flucht und Vertreibung und gibt Schüler_innen einen guten Einstieg, um sich zu historischen Quellen im Internet zu orientieren. Der Ansatz, das Thema in die Vielfalt der Migrationsphänomene nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart einzuordnen und deren positive Bedeutung zu verdeutlichen, kann die Unterrichtseinheit besonders sinnvoll machen.
Herausgelöst aus dem Migrationskontext jedoch, führt der Anspruch der Handreichung, übersichtliche und anschauliche Informationen zu ermöglichen, zu einer gewissen Einseitigkeit: Zum einen geraten die Millionen anderen, z. B. polnischen Betroffenen von Zwangsmigration aus dem Blickfeld. Weiter richten sich die Fernseh-Beiträge einerseits an den Publikumserwartungen aus, andererseits produzieren die Journalist_innen nach ökonomischen Kriterien. Die Recherche kann dementsprechend nicht geschichtswissenschaftlichen Standards genügen. So behauptet planet-wissen.de generalisierend, Vertriebene hätten keine Entschädigungen erhalten. Tatsächlich betrugen die so genannten Lastenausgleichszahlungen an Vertriebene in der Bundesrepublik nach dem Lastenausgleichgesetz allein bis 1982 rund 115 Mrd. DM insgesamt.
Die emotionalisierende und personalisierende Tendenz, das Leid der Vertriebenen in den Fokus zu nehmen, mag dem Anspruch der Anschaulichkeit geschuldet sein. Sie leistet jedoch keinen Beitrag, den Mythen um die deutschen Vertriebenen die Herausbildung einer historischen Urteilsfähigkeit entgegenzusetzen. In diesem Sinne wäre beispielsweise eine Erläuterung des Begriffs der „Heimatvertrieben“ notwendig. Was unterscheidet diese von anderen Vertriebenen und Kriegsflüchtlingen? Durch die didaktische Reduzierung stellt die geleitete Internetrecherche „Flüchtlinge und Heimatvertriebene“ der Geschichtsdidaktik der Universität Nürnberg einen praktischen und lebendigen Einstieg ins Thema dar, muss allerdings um eine kritische Auseinandersetzung mit der etablierten Erinnerungskultur ergänzt werden.