Von Lucas Frings
Bei Fokus Europa, dem Interview-Podcast der Heinrich-Böll-Stiftung, führt der Journalist Tim Pritlove Gespräche mit Expert_innen, meist aus der Wissenschaft, zu Politik, Kultur, Identitäten und Gemeinschaft in Europa und einzelnen Regionen. Die Stiftung möchte hiermit versuchen „die Hintergründe und Zusammenhänge des Staatengeflechts zu verdeutlichen und zu erklären“.
Nachdem sich Pritlove in den ersten Ausgaben des Podcasts vor allem mit den Institutionen der Europäischen Union befasst hatte, bildet die neunte Folge vom März 2015 den Auftakt zu einem Blick auf Mittel-und Osteuropa. Kurz darauf erschienen Gespräche zum jeweiligen Verhältnis von Russland, der Ukraine, dem Balkan und Ungarn zu Europa. In der hier vorgestellten Folge ist Dietrich Beyrau, Historiker, Osteuropaexperte und emeritierter Professor in Tübingen zu Gast.
Was verstehen wir unter Osteuropa?
Eingangs steht für Beyrau und Pritlove eine Begriffsklärung an. Was ist Osteuropa? Wer bezeichnet es so? Seit wann? Und welche Funktionen hat diese Definition?
Beyrau, insbesondere Kenner der russischen und sowjetischen Geschichte führt aus, dass sich der Begriff „Osteuropa“ erst nach dem Ersten Weltkrieg institutionalisierte und etwa Russland zuvor weitgehend zu Nordeuropa gerechnet wurde sowie Katharina die Große den Beinamen „Königin des Nordens“ trug.
Die durch den Krieg eintretende Verschiebung zu Osteuropa war öfter eine Fremdzuschreibung als eine selbst gewählte Zuordnung. Beyrau beschreibt die Wahrnehmung: „Der Osten ist rückständig, ist barbarisch, ist bäuerlich – im Unterschied zur städtischen Zivilisation im Westen, also es war immer etwas negativ. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte, wenn man so will, niemand zum Osten gehören.“ Selbst bei einer gewissen romantischen Verklärung die beispielsweise bei kulturellen Aspekten wie der Literatur Dostojewskis aufkomme, habe man sich in Deutschland immer vom Osten distanziert.
Beyrau vertritt die Position, dass in vielen Ländern, gerade in Südosteuropa die Eigenwahrnehmung primär national verlief, ein Zugehörigkeitsbedürfnis zu einer größeren Gruppe bestand nicht.
Nationale Besonderheiten
Pritlove und Beyrau arbeiten sich durch fast alle Länder und Regionen Mittel- und Osteuropas und betrachten deren Geschichte unter dem Blickwinkel der Zugehörigkeit zu einem „Osteuropa“. In Bezug auf Tschechien hält hier Beyrau fest, dass es nur wegen der Sprache, dem Slawischen, zum Osten gezählt wird. Mit einem Blick ins 19. und 20. Jahrhundert ließe sich das nicht erklären.
Dabei streift Beyrau unmittelbar aufeinanderfolgend verschiedene Themen, wie etwa die britische Unterstützung der jugoslawisch-kommunistischen Widerstandsbewegung um Tito ab 1943 oder den finnischen Nationalismus, ohne näher darauf einzugehen. Das mag die Hörer_innen zeitweise etwas überfordert zurücklassen, andererseits bietet sich auf diese Weise ein Füllhorn an spannenden Aspekten der Geschichte Ost-und Mitteleuropas für die eigene Weiterbeschäftigung.
Ausführlicher zeichnet Beyrau dagegen verschiedene Abgrenzungslinien einzelner Nationen nach. Während es in der Tschechoslowakei und dem serbischen Teil Jugoslawiens nach 1945 die Kommunistische Partei mit 30%-40% Zustimmungswerten relativ stark gewesen sei, wurden im katholischen Polen Kommunist_innen stark abgewehrt und mussten sich sehr anpassen. Auch wurde in Polen „Deutschtum mit Preußentum gleichgesetzt, und Preußentum war evangelisch. Da war nach Osten hin die Abgrenzung gegen die Orthodoxen und nach Westen gegen die Protestanten.“
Im zweiten Teil der Sendung lenkt Beyrau das Gespräch dann zum Kalten Krieg und der Teilung Europas um sich die unterschiedlichen Situationen in den Regionen anzuschauen. Die historische Betrachtung sei wichtig um zu begreifen, wie die Länder Mittel-und Osteuropas nach der Wende aufgestellt seien etwa im Hinblick auf ein Wiedererstarken Russlands.
Ebenfalls kommen die Haltungen einzelner Länder, insbesondere Polen, gegenüber Deutschland zur Sprache und die Funktionalisierung von Nationalismus. Im Ausblick nehmen sie die jüngere Generation in den Blick, die Beyrau bei aller Einbindung in internationalere Kontexte immer noch an die Geschichte ihrer Herkunftsländer gebunden seiht.
Der Podcast ist im besten Sinne ein Gespräch zwischen Beyrau und Pritlove. Sie orientieren sich zwar an groben Themenschwerpunkten, entfernen sich aber gerade bei der Betrachtung der jüngsten Jahrzehnte immer wieder davon. So eignet sich der Beitrag weniger für die Bildungsarbeit, gibt jedoch einen Überblick über die Komplexität nationalstaatlicher Beziehungen und damit verbundenen kulturellen Aspekten wie Sprache und Religion.
Die Podcast-Episode kann hier angehört und heruntergeladen werden.