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Für das historisch-politische Lernen zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vor 70 Jahren ist nicht in erster Linie die Wahl der Unterrichtsmethode vom lehrerzentrierten informierenden Lernen, über schülerorientierte Rollenspiele bis zur Zeitzeugenbefragung oder dem Besuch einschlägiger Gedenkstätten entscheidend. Wichtiger noch erscheint die Auswahl der bedeutsamen Inhalte für den Unterricht. Während der Yale-Historiker Timothy Snyder 2010 in seinem in hoher Auflage erschienenen Werk „Bloodlands“ den Hungertod von mehr als zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen als größtes Massenverbrechen des NS-Regimes nach dem Holocaust charakterisiert, erinnert die deutsche Öffentlichkeit lieber die Tragödie der 6. Armee 1942/43 in Stalingrad. Dass selbst in der Stalingrader Schlacht weit mehr sowjetische als deutsche Soldaten zu Tode kamen, ist nahezu unbekannt. Und wenn Snyder den Hungerplan der NS-Führung vom Mai 1941 im Zusammenhang mit der Zertrümmerung der UdSSR, dem Generalplan Ost und der „Endlösung“ als eines der vier größten NS-Verbrechensvorhaben vom Frühsommer 1941 historisch verortet, ist das im Land der Täter kaum ein Thema. Der Tod von 26-27 Millionen Sowjetbürger/innen, darunter mindestens vier Millionen Hungertoten, kam in der Gedenkkultur der deutschen Gesellschaft nicht an. Schule als Subsystem der Gesellschaft stößt hier an ihre Grenzen, bietet aber auch Chancen, diese Grenzen in Ansätzen zu verschieben.
Viele Bundesbürger/innen und eine unbekannte Zahl an Lehrkräften werden anno 2011 beim Begriff „Hungerplan“ an einen Diätplan zum Abspecken überflüssiger Pfunde denken. Notwendig hingegen ist das Wissen, dass es sich dabei um den von der NS-Führung sanktionierten Plan handelte, im Falle eines erwarteten siegreichen „Blitzkriegs“, die ganze Wehrmacht und Teile der deutschen Bevölkerung mit sowjetischen Lebensmitteln zu ernähren. Wie das gehen sollte? Nun, die Berechnungen in Görings Vierjahresplanbehörde sahen die Dezimierung von dreißig Millionen, aus nationalsozialistischer Sicht, unnützen sowjetischen Essern vor. Ihr Hungertod sollte das deutsche Ernährungsproblem lösen. Das kann Schülerinnen und Schülern schon in Sekundarstufe I vermittelt werden, wenn sie eine Chance erhalten, die Fakten in eine angemessene Wissensstruktur einzuordnen.
Adäquater Unterricht in unserem Zusammenhang kann nicht heißen: auf der einen Seite der Vernichtungskrieg im Osten – und auf der anderen Seite, davon ganz weit weg, die Judenvernichtung. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich die Mühe machen, die in Schulgeschichtsbüchern weitgehend fehlenden, in Fachzeitschriften verstreut vorliegenden didaktischen Materialien zum antijüdischen und antikommunistischen Charakter des Feldzugs in den Unterricht einzubringen. Die Thematisierung verbrecherischer Befehle des späteren Widerstandskämpfers General Erich Hoepner, der noch vor Beginn des Russlandfeldzuges schon am 2. Mai 1941 die „völlige Vernichtung des Feindes“ forderte, insbesondere „der Träger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems“, zeigen ebenso den gesellschaftlichen Konsens des Krieges als antibolschewistischen Kreuzzug wie die Erörterung der Stellungnahmen deutscher Geistlicher, die den Krieg gegen die atheistische Sowjetunion begrüßten, um den „Pestherd zu beseitigen“.
Die Dämonisierung des Gegners als bolschewistisches Ungeheuer, dessen biologische Basis das Judentum sei und dessen Volksmasse aus unwerten Slawen bestünde, hatte auch eine praktische, für den beabsichtigten Eroberungskrieg funktional günstige Seite. Der Kampf um „Lebensraum im Osten“ rechtfertigte den Krieg als Recht des Stärkeren zur Durchsetzung machtpolitischer und wirtschaftlicher Interessen in einer nach der vermeintlichen rassischen Wertigkeit ihrer Völker eingeteilten Welt. Für die geplante Unterwerfung der Sowjetunion war es von Vorteil, die slawischen Völker als „Untermenschen“ anzusehen. Deren entmenschlichter Status ermöglichte den Abbau moralischer Barrieren für die notwendige Entgrenzung von Gewalt im „totalen Krieg“, der zwecks Optimierung seiner Erfolgsaussichten mit inhumansten Mitteln geführt wurde. Die Schulbuchgeschichtsbücher haben gut daran getan, Schlachtenbeschreibungen aus ihren Darstellungen weitgehend zu streichen. Doch sie setzten an deren Stelle nicht die Erörterung der skizzierten Zusammenhänge. So besteht die paradoxe Situation, dass in heutigen Lehrwerken die sechs „Friedensjahre“ des Nationalsozialismus 1933 bis 1939 weit umfangreicher als die in Völkermord und Holocaust kulminierende Führung des Vernichtungskrieges präsentiert werden.
70 Jahre nach dem 22. Juni 1941 geht es darum, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass der antijüdische, antibolschewistische und antislawische Vernichtungskrieg den Kern des Nationalsozialismus berührt. Dieser besteht darin, die Völker der Welt in wertvolle und minderwertige einzuteilen. Die wertvollen, an ihrer Spitze die Deutschen, hatten das Recht, auf Kosten der minderwertigen besser zu leben, ja sogar „Lebensraum“ im Osten zu erobern. Wobei der „Lebensraum“ als Ressourcenraum zur Besserstellung der Deutschen angesehen wurde. Die Dezimierung der einheimischen Bevölkerung um zig Millionen Menschen wurde in Kauf genommen. Die Vorstellung, ein besonders hochwertiger Mensch zu sein, der von Juden, „slawischen Untermenschen“ und anderen an seiner vollen Entfaltung gehindert wird, war vielen Deutschen nicht unsympathisch. Die Schuldigen an der eigenen Misere waren gefunden, ein klares Feindbild vorhanden. Jugendliche können das besser verstehen als viele Erwachsene. Darin liegt unsere Chance.