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Trotz zunehmender Konkurrenz gilt das Schulgeschichtsbuch bis heute als „Leitmedium des Geschichtsunterrichts“ (Gautschi u.a. 2007, 17). Das ist auf den ersten Blick einigermaßen überraschend. Denn schon seit Jahren erklären einige Verfechter der „neuen“ Medien diesen seit Jahrhunderten etablierten Klassiker zum Auslaufmodell – bislang jedoch ohne Konsequenz. Meine These ist, dass sich daran grundsätzlich auf absehbare Zeit auch nichts ändern wird, dass Schulbuchmacher im Umgang mit der NS-Vergangenheit aber dringend neue didaktische Strategien entwickeln müssen, wenn sie Schülerinnen und Schülern die historische Relevanz des Themas vermitteln und sie auf die geschichtskulturellen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft vorbereiten wollen.
Zum ersten Teil der These: Warum wird sich das Schulbuch als Leitmedium des Geschichtsunterrichts auch in Zukunft behaupten können? Dafür sprechen mindestens zwei Gründe. Zunächst muss man sich klar machen, dass es das Schulbuch eigentlich gar nicht gibt. Zutreffend ist dagegen, dass sich seit dem 18. Jahrhundert ganz verschiedene Schulbuchtypen – von der Katechese über den Leitfaden und das reine Arbeitsbuch bis hin zum kombinierten Lern- und Arbeitsbuch – herausgebildet haben, die alles in allem für die große Wandlungs- und Innovationsfähigkeit des Mediums sprechen.
Diese Innovationsfähigkeit prägt auch den aktuellen Schulbuchmarkt. Denn Schulbücher als Klassiker in gedruckter Form und die Welt der „neuen“ Medien sind schon längst keine absoluten Gegensätze mehr. Die meisten Schulbuchverlage haben ihren Schulbüchern in den letzten Jahren nicht nur ein modernes und motivierendes Layout gegeben, sondern auch ein wachsendes multimediales Begleitangebot entwickelt, so dass sich immer deutlicher eine für historische Lehr-Lernprozesse prinzipiell produktive Symbiose zwischen Bewährtem und Neuem abzeichnet.
Der zweite Grund besteht darin, dass „das“ Schulbuch „im Spannungsfeld heterogener Erwartungshaltungen mehr Wünsche besser erfüllt“ als die meisten seiner Konkurrenzprodukte (Schönemann/Thünemann 2010, 15). Für die Schulbuchverlage, die in Deutschland ohnehin mit einem regional stark fragmentierten Schulbuchmarkt zu kämpfen haben, ist das klassische Schulbuch schon aus kommerziellen Gründen unverzichtbar, weil es ein profitables Verhältnis von Aufwand und Ertrag sichert. Für die Schulträger, d. h. Länder und Kommunen, wird der Klassiker in Buchform – von Kontroll- und Zulassungsfragen einmal abgesehen – so lange alternativlos bleiben, bis für alle Schülerinnen und Schüler in der Schule und zu Hause ausnahmslos ein eigener PC zur Verfügung steht. Das ist aber nicht zuletzt angesichts der technischen Ausstattung vieler Schulen immer noch ziemlich utopisch. Und für die Hauptadressaten des Schulbuches, also Schüler/innen und Lehrer/innen, gilt gleichermaßen: Wenn Schulbücher klar strukturiert, fachwissenschaftlich fundiert und fachdidaktisch klug konzipiert sind, dann sind sie als Medien effektiver historischer Lehr-Lernprozesse gerade aufgrund ihrer leichten Verfügbarkeit nach wie vor konkurrenzlos.
Zum zweiten Teil der These: Wirft man einen Blick auf die aktuelle Schulbuchlandschaft, dann erscheint es dringend notwendig, dass Erkenntnisse, die in Fachwissenschaft und Fachdidaktik längst zum common sense gehören, endlich auch zum Standard neuer Schulgeschichtsbücher werden. Drei Punkte sind hier besonders wichtig.
Erstens fällt auf, dass manche Schulbücher immer noch dazu tendieren, einfache Schwarz-Weiß-Bilder der NS-Vergangenheit zu zeichnen. Auf der einen Seite befinden sich dann Hitler, Himmler und eine kleine Gruppe hochrangiger NS-Funktionäre, auf der anderen Seite stehen die Opfer des NS-Regimes. Dieses simplifizierte Geschichtsbild, das allenfalls durch die Thematisierung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus einige Schattierungen erhält, bedarf dringend der Differenzierung. Vor allem sollte deutlich werden, dass zahlreiche NS-Täter aus der Mitte der Gesellschaft stammten, dass sie also z.T. „ganz normale Männer“ (Christopher Browning) waren und dass es vielleicht nicht einmal in erster Linie die Täter, sondern besonders die Mitläufer und Zuschauer sind, deren Biografien aufschlussreiche Gegenwartsbezüge ermöglichen und historische Fragen nach den Handlungsspielräumen in einer Diktatur aufwerfen.
Zweitens ist kaum zu bestreiten, dass die meisten Schulgeschichtsbücher das Thema Nationalsozialismus immer noch recht einseitig vermitteln. Als Teil der Zeitgeschichte ist der Nationalsozialismus aber nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, sondern vor allem ein geschichtskulturelles Phänomen. In Film und Fernsehen, in Printmedien und Internetforen, in Gedenkstätten, Museen und Denkmalkontroversen – die NS-Vergangenheit scheint allgegenwärtig. Nicht zuletzt spielen für historische Lehr-Lernprozesse auch familiäre Erinnerungsspuren eine entscheidende Rolle. Will man die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler ernst nehmen, dann müssen Erinnerungs- und Geschichtskultur und vor allem die mit ihnen verbundenen Kontroversen integraler Bestandteil eines jeden guten Schulgeschichtsbuches werden. Hier haben viele Bücher einen großen Nachholbedarf, weil sie diese Kontroversen, die für den Prozess historischer Bewusstseins- und Identitätsbildung von zentraler Bedeutung sind, allenfalls am Rande thematisieren. Erst wenn Schulbuchmacher dieses Defizit beheben, können sie zeigen, welche lebensweltliche Relevanz das Thema Nationalsozialismus immer noch hat. Und erst dann verstehen Schülerinnen und Schüler auch, warum der lange Zeit defizitäre deutsch-deutsche Umgang mit der NS-Vergangenheit seit 1945 mittlerweile stärker umstritten ist als die NS-Vergangenheit selbst.
Neben der Forderung nach historischer Differenzierung und nach Berücksichtigung zeitgeschichtlicher bzw. geschichtskultureller Kontroversen ist schließlich noch ein dritter Punkt hervorzuheben. Empirische Studien haben gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler selbst bei einem Thema wie dem Nationalsozialismus kaum dazu in der Lage sind, reflektierte historische Werturteile zu bilden. Offensichtlich erwartet das aber auch (fast) keiner von ihnen. Jedenfalls gibt es in den meisten Schulbüchern zu wenig Arbeitsaufträge und Methodenseiten, die Schülerinnen und Schüler bei der Bildung historischer Werturteile angemessen unterstützen. Damit Schulbücher ihren Status als Leitmedien des Geschichtsunterrichts behaupten können, ist es wichtig, dass Schulbuchautoren dem Prozess historischer Werturteilsbildung oder Wertargumentation in Zukunft deutlich mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher. Das ist vor allem eine Frage der Aufgabenkultur – ein Forschungsfeld, das die Geschichtsdidaktik zu Recht zunehmend interessiert.
Peter Gautschi/Daniel V. Moser/Kurt Reusser/Pit Wiher: Geschichtsunterricht heute – Einleitung und Überblick über die Hauptergebnisse der Studie. In: Dies. (Hg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 9−20.
Susanne Popp: Nationalsozialismus und Holocaust im Schulbuch. Tendenzen der Darstellung in aktuellen Geschichtsschulbüchern. In: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre. Göttingen 2010, S. 98−115.
Bernd Schönemann/Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/Ts. 2010.
Holger Thünemann: Zeitgeschichte im Schulbuch. Normative Überlegungen, empirische Befunde und pragmatische Konsequenzen. In: Susanne Popp/Michael Sauer/Bettina Alavi/Marko Demantowsky/Gerhard Paul (Hg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010, S. 117−132.
Meik Zülsdorf-Kersting: Jugendliche und das Thema „Holocaust“ – Empirische Befunde und Konsequenzen für die Schulbuchkonstruktion. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. 2. Aufl. Berlin 2011, S. 105−119.