Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Trotz der langjährigen Debatte um die Entschädigung von Überlebenden ist die nationalsozialistische Zwangsarbeit im Geschichtsunterricht wenig präsent. Dabei eignet sich das Thema Zwangsarbeit, vermittelt über didaktisch aufbereitete Zeitzeugen-Interviews, besonders für einen modernen Geschichtsunterricht, der Multiperspektivität, Problembewusstsein und historische Kompetenzen fördern will.
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, damals oft noch im Schulalter, gehörten zur „Normalität“ des NS-Alltags. Sie arbeiteten nicht nur in der Industrie, sondern auch auf Bauernhöfen, in Werkstätten und Privathaushalten; ihre Baracken lagen oft mitten in Wohngebieten. Die tief in den Kriegsalltag der deutschen Bevölkerung und Bürokratie integrierte Geschichte der Zwangsarbeit erlaubt damit vielfältige didaktische Zugänge. Schülerinnen und Schüler können heute überall in Nachbarschaft und Familiengeschichte historische Spuren der Zwangsarbeit entdecken. In den Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter spiegeln sich die Handlungsspielräume der deutschen Lagerführer und Meister, Vorarbeiter oder Anwohnerinnen; Gewalt, Diskriminierung und Denunziation werden ebenso thematisiert wie Widerstand, Solidarität und Liebe.
Das Thema Zwangsarbeit führt die Lernenden ein in die – in der Bildungsarbeit häufig vernachlässigte – nationalsozialistische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hier lassen sich Fragen nach den von der NS-Diktatur profitierenden Deutschen anschaulich diskutieren, seien es die ihre Produktion ausweitenden Unternehmen im „faschistischen Klassenstaat“, seien es die zu Vorarbeitern aufsteigenden Deutschen in „Hitlers Volksstaat“.
Die ethnisch gestaffelte Diskriminierung im nationalsozialistischen „Rassenstaat“ zeigt die Widersprüchlichkeiten, aber auch die breite Akzeptanz der NS-Rassenhierarchie in der deutschen Bevölkerung. Ihre Analyse vermittelt Orientierungskompetenz auch gegenüber aktuellen Formen von Rassismus. Didaktisch können Vergleiche – nicht Gleichsetzungen – mit heutigen Formen von Zwangs- und Kinderarbeit, Sklaverei und Menschenhandel sinnvoll sein. Grundlegende Fragen nach Arbeit, Zwang und Freiheit sind auch relevant in einer postindustriellen Gesellschaft, in der viele Schülerinnen und Schüler von der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern und unsicheren eigenen Berufsaussichten betroffen sind.
Die lebensgeschichtlichen Interviews mit Überlebenden der Zwangsarbeit aus verschiedenen Ländern ermöglichen zudem eine internationale Perspektive, denn die Interviewten sprechen auch über die deutsche Besatzungspolitik oder unterschiedliche Gedächtniskulturen in Europa. Die intensive Diskussion um die Zwangsarbeiter-Entschädigung – ein Musterbeispiel einer geschichtspolitischen Kontroverse – zeigt, wie stark historische Deutungen aktuelle Politik beeinflussen können.
Besonders für multikulturelle Lerngruppen ist die mit der NS-Zwangsarbeit verbundene Zwangsmigration ein wichtiges Thema. Anhand der in den Interviews erzählten Erfahrungen von Fremdheit, Ausgrenzung und Ausbeutung lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Wanderungsprozessen (z.B. von „Gastarbeitern“ oder Flüchtlingen) diskutieren. Auf diese Weise kann das Thema NS-Zwangsarbeit auch problemorientiert in die Geschichte von „Wirtschaftswunder“, Migration und europäischer Integration eingebettet werden.
Besonders anschaulich vermittelt wird die Geschichte der über 12 Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mit Hilfe von lebensgeschichtlichen Interviews, wie sie das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte“ bereit stellt. Über die Online-Plattform www.zwangsarbeit-archiv.de stehen lebensgeschichtliche Interviews mit 590 ehemaligen KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und ‚zivilen’ Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus 27 Ländern zur Verfügung (Lesen Sie hier mehr über das Portal).
Die Aufbereitung der Interviews für die schulische und außerschulische Bildung lag vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen besonders am Herzen. Sie unterzogen sich den Mühen und oftmals auch den erneut traumatisierenden Qualen eines lebensgeschichtlichen Interviews, um ihre Geschichte an zukünftige Generationen weiterzugeben.
Jedoch ist ein vierstündiges ukrainisches Interview in dem von 45-Minuten-Rhythmus geprägten Schulalltag nur schwer zu nutzen. Lebensgeschichtliche Interviews sind hochkomplexe historische Quellen, die für den Schulunterricht nicht nur gekürzt, sondern auch mit didaktisch sinnvollen Fragestellungen und Kontextinformationen versehen werden müssen.
Mit Unterstützung von Geschichtsdidaktikern und Probeläufen in Berliner Schulen hat das Center für Digitale Systeme an der Freien Universität daher die Bildungsmaterialien „Zeitzeugen-Interviews im Unterricht: Video-DVD – Lernsoftware – Lehrerheft“ entwickelt. Sie unterstützen kompetenzorientiertes Lernen im Regelunterricht, bei Projekttagen und Präsentationsprüfungen.
Eine Doppel-DVD führt Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse auf zwei Wegen an Thema und Quellengattung heran: Auf einer Video-DVD (zur Vorführung im Klassenraum) berichten fünf Überlebende von ihren Erfahrungen in Lagern und Fabriken; zwei Hintergrundfilme informieren über Zwangsarbeit und Entschädigung sowie über das Interview-Archiv. Alle Filme wurden von dem Historiker Alexander von Plato und der Filmemacherin Loretta Walz erstellt.
Die Lernsoftware (für die Projektarbeit im Computerraum oder die individuelle Prüfungsvorbereitung) bietet zu den sieben Filmen passende Aufgaben und Karten, Zeitleiste und Lexikon, Transkripte und Fotos, Infotexte und Methodentipps. Ein Lehrerheft hilft mit Informationstexten, Aufgabenvorschlägen und Arbeitsblättern bei der Vorbereitung.
Aufgezeichnete und multimedial bearbeitete Video-Interviews können ein persönliches Gespräch mit Überlebenden des Nationalsozialismus nicht ersetzen, denn deren moralische Autorität und Authentizität wird gerade im direkten Dialog erfahrbar. Andererseits erlauben aufbereitete Interviews in stärkerem Maße eine aktive Quellenarbeit, kritische Analysen und eigene Deutungsversuche.
60 Jahre nach Kriegsende geführte Interviews sind von der individuellen Biografie, den gesellschaftlichen Erinnerungskulturen und der konkreten Interview-Situation beeinflusst. Die vorgeschlagenen Aufgaben machen dies deutlich, ohne die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als unglaubwürdig zu diskreditieren. Vielmehr wird so erkennbar, dass Geschichte – auch die Historiographie – immer eine deutende Konstruktion von Vergangenheit ist.
Die „Zeitzeugen-Interviews für den Unterricht“ vermitteln historische Kompetenzen und fördern eine aktive Erinnerung an die Opfer der NS-Zwangsarbeit. Sie sind ab Spätherbst 2010 über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.