Die Frage des Umgangs mit dem Kolonialismus stellt sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Umgang mit der Erinnerung an die NS-Verbrechen nicht, um beides zu vergleichen, sondern vielmehr, weil von beiden historischen Erfahrungen Nachwirkungen in der Gegenwart wahrnehmbar sind. Es sind diese Nachwirkungen, von denen ausgehend die Frage nach dem Ort eines postkolonialen Gedächtnisses in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft gestellt werden kann. Zu bearbeiten sind die Folgen des Nationalsozialismus in der Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus als historisch herausgebildete Praktiken der Kategorisierung, Diskriminierung und Verfolgung von als minderwertig definierten Anderen.
Hinsichtlich der geschichtlichen Ausprägungen und Begründungen unterscheiden sich Rassismus und Antisemitismus. Sie sind aber zugleich beide Ausdruck von kulturellen Identitätsvergewisserungen und nationalistischen Herrschaftsbestrebungen. Die Positionen des hierarchisch definierten Anderen werden unterschiedlich besetzt, dienen aber jeweils einem überlegenen Selbstbild und der Ausdehnung eigener Macht.
Während der Kolonialrassismus die Fremden exterritorialisieren konnte, ist der moderne Antisemitismus geprägt von der Vorstellung eines zersetzenden Elements im Inland. Koloniales Wissen bietet dem europäischen Subjekt die Gelegenheit, sich selbst als zivilisiert und aufgeklärt zu stilisieren. Antisemitisches Wissen eignet sich dazu, dieses Selbstbild so auszustatten, dass es auch moralisch bestehen kann, indem ein Gegenbild hergestellt wird, dem alles zugeschoben werden kann, was außerhalb der eigenen Vorstellungen von Anständigkeit liegt.
Die Verankerung der Kolonialgeschichte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bedarf einer Reflexion des zeitgeschichtlichen Kontextes nach Auschwitz. Die Erinnerung an die Kolonialverbrechen kann im deutschen Kontext dazu benutzt werden, den Holocaust zu relativieren und die Erinnerung daran zurückzuweisen zugunsten vernachlässigter Geschichten anderer Opfer. Gedächtniskonkurrenzen werden aber weder den historischen Zusammenhängen gerecht, noch den aktuellen Erfordernissen einer sich globalisierenden Erinnerungskultur. Sie verstellen den Blick auf die jeweils spezifische Geschichte. Um die Nachwirkungen von Kolonialismus und Nationalsozialismus in der Gegenwart wahrnehmen zu können, bedarf es einer unterscheidenden Analyse beider Geschichtszusammenhänge.
In der geschichtlichen Wahrnehmung des Verhältnisses von Kolonialismus und Nationalsozialismus erweist es sich als problematisch, einfach von einer „Kontinuität“ auszugehen, so als führe die koloniale Herrschaftspraxis zwangsläufig zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Demgegenüber wird im Nationalsozialismus auf der Grundlage eines ideologisch fundierten Antisemitismus eine spezifische völkisch-rassistische Praxis eingeführt, die sich vom kolonialen Rassismus unterscheidet. Es handelt sich hier nicht einfach um ähnliche Phänomene.
Zwei Formen des Umgangs mit Kolonialismus und Nationalsozialismus ergeben sich für mich aus diesen Überlegungen: zum einen die Wahrnehmung historischer Diskontinuitäten und jeweiliger Besonderheiten in den Herrschaftspraktiken, zum anderen die Auseinandersetzung mit den gleichzeitig vorhandenen Nachwirkungen beider Geschichtszusammenhänge in der Gegenwart. Deshalb möchte ich zugleich von einer postnationalsozialistischen und von einer postkolonialen Erinnerungsarbeit sprechen – einer Arbeit, die das, was sie reflektiert nicht loswird. Wenn ich heute versuche, eine Aufarbeitung des Kolonialismus anzustoßen, dann tue ich das in einer Gesellschaft, in der der Nationalsozialismus nachwirkt.