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Berlin-Kreuzberg, Mai 1989. Kinder einer dritten Klasse befestigen eine einfache Papptafel vor dem Künstlerhaus Bethanien. Ganz in der Nähe hatte im Oktober 1942 der über siebzigjährige Wilhelm Lehmann einen Satz gegen Hitler und den Krieg an die Wand eines Toilettenhäuschens geschrieben. Er war gesehen worden und wurde verraten. Am 10. Mai 1943 wurde er "im Namen des Volkes" in Plötzensee ermordet.
Nun erinnern deutsche, polnische, türkische und kurdische Kinder an das für sie unfassbare Ereignis. Auf drei Blättern, die sie auf die selbstgefertigte Papptafel kleben, erzählen sie in einfachen Sätzen und Bildern das Leben Wilhelm Lehmanns (siehe pdf-Dokumente). In einem von ihnen entworfenen Flugblatt begründen sie ihr Gedenken, sie verteilen das Flugblatt an Vorübergehende, verwickeln die Menschen in Gespräche. Hintergrund ihres Handelns ist zum einen ihre Empörung über den Mord an einem Einzelnen, der in ihrem Kiez wohnte: einem alten Mann, ähnlich den Alten, denen sie selbst jeden Tag begegnen. Zum andern sind es ihre eigenen - manchmal auch durch die Gespräche der Eltern vermittelten - Erfahrungen in Kreuzberg 1989, vor allem die der zunehmenden Nationalismus und das Erstarken neonazistischer Gruppierungen zu jener Zeit.
Das Projekt wäre nicht gelungen, hätten die Kinder diese beiden Ebenen von Betroffenheit nicht miteinander verknüpfen können - denn das sind die emotionalen Voraussetzungen dieses Projekts. "Nicht von Pappe", so kommentierte die überregionale "tageszeitung" (taz) die Aktion der Kinder vor dem Künstlerhaus Bethanien.
Von nun an gewann das Geschehen eine Eigendynamik, die im Sinne einer traditionellen Unterrichtsvorbereitung nicht mehr planbar war. Auf den Artikel in der "taz" hin schrieb uns eine Leserin. Die Kinder luden sie in die Klasse ein und erfuhren von ihr über den Freispruch (in den sechziger Jahren) des Richters Rehse, der Wilhelm Lehmann zum Tode verurteilt hatte. Sie waren empört und schrieben darüber einen Leserbrief an die "taz", der auch veröffentlicht wurde.
Zu der Neugier an dem Vergangenen, der eigenen Recherche und dem gemeinsamen Herstellen der Materialien kamen immer stärker die Freude und der Stolz an ihrem öffentlichen - und wirksamen - Handeln. Ihre Emotionen verbanden sich mit einem ihnen eigenen "eingreifenden Denken". Dieser Zusammenhang wurde zur Voraussetzung für eine kontinuierliche Arbeit, die die verbleibende Grundschulzeit andauerte. Ein derartiger Unterricht ist insofern nicht wiederholbar, als er nicht planbar im traditionellen Sinn ist, sondern in Abhängigkeit von den besonderen emotionalen und situativen Bedingungen dieser Klasse steht.
Unterdessen war bekannt geworden, dass der Bezirk Kreuzberg eine offizielle Gedenktafel für Wilhelm Lehmann errichten würde. Als Redner sollten u.a. die Kinder auftreten (was sie auch erfolgreich taten). Die Schüler entwickelten mittlerweile Initiativen, die noch ein Jahr zuvor für sie (und für mich) undenkbar gewesen wären. Sie informierten in einem Brief die "Berliner Abendschau" über die Einweihung der Tafel, traten selbstbewusst neben den "gelernten" Politikern auf und genossen ihre Erfolge. Es entstand schließlich eine Arbeitsgemeinschaft, in der die Schüler - weitgehend orientiert an den Methoden der oral history - antifaschistische Geschichte(n) in Kreuzberg untersuchten.
Drei Jahre nach der Aufstellung der selbstgefertigten Papptafel für Wilhelm Lehmann wurde auf Initiative der Schüler - sie hatten dem Bezirksbürgermeister ihren Wunsch vorgetragen und waren vom ihm empfangen worden - eine Gedenkstele am Kottbusser Tor für den 1980 von einer Gruppe aus dem Umfeld der "Grauen Wölfe", einer rechtsextremen türkischen Organisation, ermordeten türkischen Gewerkschafter Celalettin Kesim errichtet. Gestaltet wurde die Stele gemeinsam von dem in Berlin lebenden türkischen Künstler Hanefi Yeter und den Kindern. Antifaschistische Erinnerung schloss unter den Kreuzberger Bedingungen wie von selbst die Erinnerung an einen türkischen Gewerkschafter ein. Aus der Pappe war etwas Beständiges geworden. Dies gilt für das Sichtbare, die Stele. Es gilt aber - wie ich vermute - auch für das weniger Sichtbare, die Haltung der Kinder.
Zwei Jahre nach der Einweihung der Gedenkstele für Celalettin Kesim trafen wir uns noch einmal. Nachmittags und freiwillig - da die Schüler jetzt an verschiedenen Oberschulen waren. Wir produzierten einen Videofilm über die Entstehungsgeschichte der Gedenkstele. Noch einmal besuchten wir Hanefi Yeter, sprachen mit dem Bruder Celalettins und gingen zum Stadtrat für Volksbildung. Der Bericht der Kinder über dieses Projekt wurde als Beitrag beim "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten" eingereicht und von der Körber Stiftung mit einem Preis ausgezeichnet.