Ort/Bundesland: Berlin |
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Seit 1992 entwickelt die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz verschiedene Projektvariationen ein- bis fünftägiger Seminare für die verschiedenen Berufsgruppen der öffentlichen Verwaltung. Die Seminare haben zum Ziel, Berufstätige, aber auch Auszubildende mit ihrer jeweiligen Berufsgeschichte in der NS-Zeit zu konfrontieren, indem ihnen Gelegenheit gegeben wird, die nationalsozialistische Verfolgungs- und Völkermordpolitik auf der Basis von Dokumenten als arbeitsteilige Verwaltungsvorgänge zu analysieren, an denen ganz "normale" Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes beteiligt waren. Dabei stellen sich zwangsläufig Fragen, inwieweit allgemeine Verwaltungsstrukturen und berufsspezifische Denk- und Verhaltensweisen Voraussetzungen für die weitgehend reibungslose massenhafte Kollaboration boten. Zugleich werden aber auch ideologische Kontinuitäten und Brüche in der Verwaltungspraxis sowie der Berufsethik heute problematisiert.
Das hier beschriebene Projekt umfasst einen Seminartag. Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler in der Berufsausbildung an einem Oberstufenzentrum in Berlin sind Auszubildende für Büroberufe in der freien Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung in den Berufen Immobilienwirtschaft/Wohnungsverwaltung, Steuerveranlagung und Steuerberatung. Die Berufsausbildung findet sowohl praktisch im Betrieb als auch theoretisch an zwei Wochentagen in der Berufsfachschule des Oberstufenzentrums statt. Im Rahmen des Fachunterrichts können auch Projekttage außerhalb der Schule stattfinden, wie z.B. ein solcher Seminartag in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
In einer Vorbesprechung mit der Lehrerin bzw. dem Lehrer wird geklärt, welche thematischen Schwerpunkte die Schülerinnen und Schüler bearbeiten wollen. Dabei werden die Schülerinteressen vorrangig vor denen des Lehrers berücksichtigt. Der Projekttag in der Gedenkstätte setzt bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen Motivation für das Thema "Nationalsozialismus" und die Fähigkeit zur Eigenaktivität in Kleingruppenarbeit voraus.Es geht nicht um Schule am anderen Ort, d.h. klassische Unterrichtsarbeit mit Textbuch nach Vorschriften eines Lehrplans. Daher soll der Tag frei sein von jeglicher Leistungskontrolle und sich nicht an starren Modellen orientieren. Jeder Projekttag wird speziell für die jeweilige Gruppe erarbeitet. Informationen über die Gruppe, ihre Vorkenntnisse, Interessen und ihr Lernverhalten sind wichtige Faktoren für die Konzeption.
Der kurzen Vorstellungsrunde, in der die Gefühle und Erwartungen hinsichtlich des Themas und des methodischen Verlaufs angesprochen werden, schließt sich ein Einführungsvortrag zur Geschichte des Hauses (siehe pdf-Dokumente) und zur Bedeutung der Wannsee-Konferenz an. Da häufig die Konferenz mit der Beschlussfassung zur Vernichtung der Juden Europas gleichgesetzt wird, wird anhand des Protokolltextes, einer Landkarte und verschiedener Diagramme auf Overhead-Folien die Koordinationsfunktion der Konferenz verdeutlicht (siehe pdf-Dokumente). Das Finanzministerium war ebenso wie das Reichsverkehrsministerium auf dieser Konferenz nicht vertreten, da die notwendige Kooperation mit diesen beiden Behörden bereits funktionierte und die Anwesenheit ihrer Vertreter nicht erforderlich war.
Im nächsten Schritt werden die Stufen des Ausgrenzungs- und Enteignungsprozesses bis zur Deportationsentscheidung erarbeitet (siehe pdf-Dokumente) und dazu jeweils Gesetzestexte herangezogen (Ermächtigungsgesetz, Berufsbeamtengesetz, Nürnberger Gesetze) sowie ein kurzer Dokumentarfilm über das "normale" Funktionieren der Behörden und des Alltags in Berlin.Die Interpretation des sogenannten Arierparagraphen leitet über zur exemplarischen Darstellung der NS-"Rassenlehre" sowie zur Definition der entsprechenden Begriffe (Volk, Blut, Rasse, Arier, artverwandt, artfremd, Ariernachweis). Hierbei werden NS-Bildmaterial und Texte, die damals zur Schulung in Rassenlehre in Schulen und Fortbildungslehrgängen für Angehörige des öffentlichen Dienstes verwendet wurden, analysiert. Anschließend wird durch Auszüge aus einer Video-Dokumentation die historische Entwicklung des Berufsbeamtentums kritisch illustriert. Die teilweise ironische Darstellung provoziert zumeist eine lebhafte Diskussion über die den Staatsdienern zugeschriebenen Denk- und Verhaltensweisen.
In der anschließenden Mittagspause besteht Gelegenheit, in der ständigen Ausstellung die bisher bearbeitete Thematik zu vertiefen.Am Nachmittag findet Quellenarbeit in vier Kleingruppen statt. Die Arbeitsmaterialien werden erläutert durch eine Einführung in die sukzessiven Maßnahmen der Finanzverwaltung: Reichsfluchtsteuer, Vermögensanmeldung, Judenvermögensabgabe beziehungsweise "Sühneleistung" nach dem 9. November 1938, Zwangsarisierung, Enteignung, Vermögensverwertung.Die Schülerinnen und Schüler entscheiden sich für die jeweiligen Gruppen nach persönlichem Interesse. Die Moderatorin bzw. der Moderator steht den Gruppen für Nachfragen zur Verfügung. Zusätzlich zu den AG-Materialien gibt es eine Handbibliothek und weitere Nachschlagewerke in der Mediothek sowie dort die Hilfe der Bibliothekarinnen. Der Tag schließt mit einer offenen Diskussion im Plenum ab.