Ort/Bundesland: Nordrhein-Westfalen Friedrich-von-Bodelschwingh-Schulen, Gymnasium Bethel Beate Stollberg-Wolschendorf |
|
Beate Stollberg-Wolschendorf Friedrich-von-Bodelschwingh-Schulen, Gymnasium Bethel Am Zionswald 12 D-33617 Bielefeld Tel.: +49 (0) 521 14 43 940 Mag. Wieslaw Wysok Gedenkstätte Majdanek/Lublin Droga Meczenników Majdanka 67 20-325 Lublin Tel.: +48 81 74 42 64 7 Fax: +48 81 74 40 52 6 |
Den Städtenamen Lublin hatten die Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Geschichte noch nie gehört. Einige wenige kannten den Namen Majdanek und wussten, dass es dort ein KZ gegeben hatte. Sie wussten aber nicht, wo dieser Ort zu finden ist. Insofern mag es erstaunen, dass sich der Geschichtskurs entschied, nach Lublin fahren zu wollen, um das in unserer Schule in der 12. Klasse übliche zweiwöchige Fachpraktikum in der Gedenkstätte Majdanek zu absolvieren. Da in der 12. Klasse u.a. der Nationalsozialismus Thema im Geschichtsunterricht ist, entstand der Vorschlag, das Praktikum in einer KZ-Gedenkstätte durchzuführen. Für fast alle Kursteilnehmer stand übrigens unausgesprochen fest, dass sie an eine KZ-Gedenkstätte außerhalb Deutschlands dachten. Neben dem sachlichen Interesse entsprang dieser Wunsch sicher auch einem gewissen touristischem Erlebnishunger.
Bei der Gruppe, die 1996 zum Praktikum nach Lublin fuhr, war der Entscheidungsprozess dennoch langwierig. Das galt auch für mich als Lehrerin. Kurz vor der endgültigen Entscheidung kamen damals bei einigen Schülerinnen und Schüler noch einmal grundsätzliche Zweifel auf, ob sie sich einer Arbeit in einer KZ-Gedenkstätte überhaupt emotional gewachsen fühlten. Die Vorstellung, fast zwei Wochen z.B. in Auschwitz leben und arbeiten zu sollen, also an einem Ort, der, seit sie den Namen das erste Mal gehört hatten, als Stätte des Grauens in ihr Bewusstsein getreten war, machte Angst. Die Gruppe beschloss damals, eine kleine Delegation, bestehend aus einer Schülerin, einem Schüler und mir, auf Erkundungsreise zu schicken. Das bot sich an, weil eine Musikgruppe unserer Schule zu einer Konzertreise nach Krakau fuhr. Die Berichte der Schülervertreter, die die KZ-Gedenkstätten Auschwitz und Majdanek besucht hatten, gaben den Ausschlag: Ja, sie konnten sich vorstellen, in einer Gedenkstätte zu arbeiten. Es sei ein beeindruckender Ort, aber dem müsse man sich stellen.
Das Ziel sollte, so beschloss der Kurs, Majdanek sein, weil
Während des langwierigen und aufwendigen Entscheidungsprozesses hatte ich mich zurückgehalten und mich bemüht, die Schülerinnen und Schüler weder bei der grundsätzlichen Frage nach einem Praktikumsprojekt in einer KZ-Gedenkstätte noch bei der Entscheidung über die auszuwählende Gedenkstätte in eine bestimmte Richtung zu drängen. Die Möglichkeit eines solchen Projekts hat mich gereizt. Das merkte die Gruppe natürlich. Aber mir war es wichtig, dass die Entscheidung grundsätzlich bei den Schülerinnen und Schülern lag. Meiner Meinung nach sollte eine Schule nicht zum Besuch einer KZ-Gedenkstätte oder gar zu Arbeiten an solch einem Ort zwingen. Wenn die Auseinandersetzung mit Geschichte als Lernprozess stattfinden soll, muss jeder einzelne eine innere Bereitschaft dazu entwickeln, und das setzt die eigene Entscheidung der Schülerinnen und Schüler voraus. Das ist auch deshalb wichtig, weil ein Ort wie Majdanek starke emotionale Reaktionen auslöst, bedrückt, ratlos macht, Entsetzen auslöst und sehr konkret die Frage nach dem Unmenschen im Menschen stellt. Sich bei der Bewältigung der Eindrücke zu helfen und Raum und Zeit für die sich individuell aufdrängenden Fragen zu haben, ist nur möglich in einer Gruppe, die sich auf Grund einer gemeinsamen Entscheidung einem solchen Prozess aussetzt. Das bedeutet übrigens auch, dass für Schülerinnen und Schüler, die sich aus den verschiedensten Gründen nicht für die Teilnahme an einem Praktikum in einer KZ-Gedenkstätte entscheiden, alternative Praktikumsmöglichkeiten angeboten werden müssen.
Das schulische Ziel unseres Fachpraktikums Geschichte ist, Schülerinnen und Schüler auf verschiedene Weise "praktische" Erfahrungen mit Geschichte machen zu lassen. Das bedeutet vor allem, dass sie sich handlungsorientiert mit einer historischen Fragestellung selbständig auseinander setzen. Das kann in Form von kleinen wissenschaftlichen Untersuchungen geschehen oder durch die Beschäftigung mit Möglichkeiten der Präsentation ausgewählter geschichtlicher Ereignisse und Zusammenhänge in Ausstellungen, Museen, durch Denkmäler usw. Weiterhin geht es um Fragen der Erhaltung, Restaurierung oder Rekonstruktion vergänglichen Originalmaterials (Papier, Stoffe, Gebäude usw.). Zur Handlungsorientierung gehören auch eigene, kleine praktische Versuche der Präsentation historischer Erkenntnis. Ein Praktikum in Majdanek/Lublin bietet gute Voraussetzungen, diese Intentionen wegen des historischen Ortes, wegen der Arbeitsmöglichkeiten im Archiv und der Bibliothek, wegen der Anschaulichkeit des Geländes und wegen des Betreuungsangebots durch die Mitarbeiter der Gedenkstätte zu verwirklichen.
Die jeweiligen Praktikumsprojekte wurden in ausführlichen Absprachen mit dem Mitarbeitern der pädagogischen Abteilung der Gedenkstätte entwickelt und so vorbereitet, so dass den Schülerinnen und Schülern jeweils mehrere Arbeitsprojekte zur Auswahl standen, denen sie sich in kleinen Gruppen je nach ihrem Interesse zuordnen konnten (siehe angefügtes Dokument).
An jedem Projekt nahmen Schülerinnen und Schüler teil, die gern praktische Arbeit auf dem Gelände der Gedenkstätte leisten wollten. Da unser Aufenthalt in Lublin aus schulorganisatorischen Gründen immer im März stattfinden muss, zu einer Zeit also, in der noch keine einfachen Erhaltungsarbeiten im Gelände anfallen, hat sich dieser Wunsch bisher noch nie realisieren lassen. Für den Einsatz handwerklicher Tätigkeiten bringen die Schüler und Schülerinnen in der Regel keine hinreichenden Erfahrungen mit, und vor allem fehlt es an notwendigen Sprachkenntnissen zur Verständigung mit den polnischen Fachkräften.
Stark nachgefragt wurden vor allem Video- und Fotoprojekte. Dabei zeigte sich, dass die nötige Ausstattung für ein Videoprojekt sehr aufwendig ist, denn für Innenaufnahmen in Baracken muss eine zusätzliche Beleuchtung installiert werden. Bei Fotoarbeiten waren Schüler mit einfachen Fotokameras von der Qualität ihrer Aufnahmen nicht selten enttäuscht. Es empfiehlt sich, einige gute Kameras mitzunehmen und auf die Gruppen zu verteilen. Vorhaben wie das "Radioprojekt" und vor allem die kleine Erhebung über die Haltung der Lubliner Bevölkerung zur Gedenkstätte waren nur möglich, weil dank verschiedener privater Kontakte auch junge Polinnen und Polen Interesse hatte mitzumachen. Es waren einerseits Schülerinnen und Schüler unserer Partnerschule in Krakau, andererseits Schülerinnen und Schüler aus Lublin, von denen einige regelmäßig, andere sporadisch an den Arbeitsprojekten in der Gedenkstätte teilnahmen. Die polnischen Teilnehmer/-innen sprachen hervorragend Deutsch und beteiligten sich vor allem an Interviews und leisteten Übersetzungshilfen bei der Auswertung der Befragung. Ein Problem war, dass die polnischen Teilnehmer/-innen ohne inhaltliche Vorbereitung an den Projekten teilnahmen, während sich die deutschen Schüler intensiv auf den Aufenthalt in der Gedenkstätte vorbereitet hatten. Das war während der Arbeit nicht immer allen klar und führte manchmal zu falschen Erwartungshaltungen. Für zukünftige Projekte wird eine festere Kooperation zwischen einer polnischen und einer deutschen Schülergruppe erprobt.
Erfreulich finde ich, dass sich Schüler/-innen, die vor Ort erst zweifelten, ob ihre Arbeitsprojekte, z.B. die Transkription schlecht lesbarer Quellen oder das alphabetische Katalogisieren der deutschsprachigen Bibliothek, wirklich Sinn machen, ihr Tun im Nachhinein als durchaus lohnend einschätzten. Die Erfahrung, dass sie nach einer Eingewöhnungsphase die handschriftlichen Quellen wirklich entziffern konnten, war ein wichtiges Erfolgserlebnis. Die Beschäftigung mit Quellen führten gleichzeitig zu Diskussionen über die Informationen, die den Quellen über das Geschehen im Lager zu entnehmen waren. Diejenigen, die den alphabetischen Katalog erstellten, taten dies nicht mechanisch, sondern sahen sich etliche Bücher näher an. Sie galten unter dem Mitschülern bald als "Experten", wenn man Informationen zu bestimmten Themen suchte.
Die Vorbereitung der deutschen Gruppen auf das Praktikum erfolgte innerhalb des schulischen Unterrichts. Eine Besonderheit der gymnasialen Oberstufe unserer Schule ist es, dass es in Ergänzung zu dem als "Leitfach" gewählten Leistungskurs Geschichte einen sozialwissenschaftlich ausgerichteten Grundkurs gibt. Leistungskurs und Grundkurs sind thematisch aufeinander abgestimmt. Neben der NS-Ideologie, der NS-Herrschaftsstruktur, der Besatzungspolitik in Polen, der Geschichte der Juden in Polen und dem KZ Majdanek haben wir uns deshalb mit Fragen des Gedenkens und Gedenkkultur und mit Fragen der politischen Sozialisation sowie - am Beispiel Polens - mit Problemen von Transformationsgesellschaften befassen können.
Während der zehntägigen Projektphase in Lublin/Majdanek arbeiteten die Schülerinnen und Schüler an den Wochentagen von 9 Uhr bis ca. 15 Uhr in der Gedenkstätte (Museumsgelände, Bibliothek, Archiv usw.). Über diese Kernzeit hinaus enthielten die Programme mosaikartig Ergänzungen zu einzelnen Arbeitsschwerpunkten. Es gab Exkursionen u.a. nach Zamosc (1996), nach Wlodawa und Sobidor (1999), Vorträge zu verschiedenen Aspekten des Praktikums, Gespräche mit den Zeitzeugen Adolf Gorski und historische Spaziergänge durch das ehemalige jüdische Lublin sowie zu Organisationsstätten und ehemaligen Magazinen der "Aktion Reinhardt". Natürlich blieb darüber hinaus auch Freizeit, die die Schülerinnen und Schüler je nach Interesse gestalteten. Wie die Schülerinnen und Schüler die Praktikumszeit in Lublin/Majdanek empfunden haben, haben sie am Ende ihres Aufenthaltes in Polen niedergeschrieben (siehe angefügtes Dokument).
An die Projektphase in Lublin/Majdanek schließt sich in der Schule eine Auswertung- und Nachbereitungsphase an. In dieser Phase müssen die Ergebnisse zusammengestellt und zur Präsentation aufbereitet werden. Dabei ist es hilfreich, wenn es feste Terminvorgaben für Ausstellungen, Diavorträge usw. gibt, denn es ist nicht immer leicht, sich in räumlicher und zeitlicher Distanz erneut so in die jeweiligen Themen zu vertiefen und an Wahrnehmungen zu erinnern, die einem während des Praktikums in Lublin ganz zentral und unvergesslich schienen. Die Erfahrung, dass sich die Bedeutung der in der Gedenkstätte gewonnenen Eindrücke im Alltagsleben jedes einzelnen relativiert, ist ein wichtiger Ansatzpunkt für Diskussionen über verantwortliche politisches Handeln.Bei den bisherigen Projekten ergaben sich jedes Mal Anfragen verschiedener Institutionen mit Bitten an die Kursgruppen, ihre Ergebnisse bei bestimmten Anlässen vorzustellen. Das waren z.B. größere Ausstellungsvorhaben im historischen Museum in Bielefeld oder im Bielefelder Landgericht, in deren Rahmen die Arbeiten der Schüler/-innen gezeigt werden sollten, das waren Bitten, die Rahmengestaltung von Vorträgen zu übernehmen oder Beiträge zu Gedenkveranstaltungen am 9. November, das waren schließlich Termine mit der lokalen und regionalen Presse. Dadurch, dass die Arbeiten der Schüler/-innen dank der verschiedenen Anfragen eine breitere Öffentlichkeit erhielten, erlangten die Projekte für die Schüler/-innen noch einmal "Ernstcharakter". Dies steigerte die eigenen Ansprüche an die Qualität der Umsetzung, die sich zumeist als viel zeit- und energieaufwendiger erwies, als die Schülerinnen und Schüler erwartet hatten. Viele Produkte sind außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit bearbeitet und letztlich erst unter dem Druck der Präsentationstermine fertiggestellt worden. Die Tatsache aber, dass sie ihre Vorhaben wirklich umgesetzt haben und dabei erstaunlich viele Menschen in Bielefeld und Umgebung erreicht haben, war jedes Mal ein wichtiges Erfolgserlebnis für die jungen Erwachsenen. Die Rückmeldungen, die sie erhielten, bestätigten, dass sich das Praktikumsprojekt und ihr Einsatz in Lublin/Majdanek gelohnt hatte (siehe angefügtes Dokument).
Für mich und meine Kollegen waren die bisherigen Praktikumsprojekte ohne Zweifel eine in hohem Maße eindrucksvolle Erfahrung. Dabei waren die Erfahrungen bei den verschiedenen Projektfahrten mit den verschiedenen Gruppen jeweils anders gelagert. Besonders deutlich aber hat sich mir gezeigt, dass die Beschäftigung mit der Geschichte des KZ-Majdanek, mit der "Aktion Reinhardt" und mit dem Generalplan Ost am Ort des Geschehens eine ganz andere Motivation bewirkte, als ich dies aus dem schulischen Unterricht kenne. Bis auf wenige Ausnahmen bedurft es nicht des ständigen "Anschiebens" zur Arbeit, wie ich das sonst aus der Gruppen- und Projektarbeit kenne. Die Praktikumsprojekte wären nicht realisierbar ohne die organisatorische Hilfe von "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste", die finanzielle Unterstützungen durch das "Deutsch-Polnische Jugendwerk", die "Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit" und die Jugendbildungsarbeit der Evangelischen Kirche von Westfalen.
Im Rückblick kann ich heute sagen, dass die Praktikumsprojekte in Majdanek ein lohnender Versuch sind, bei den Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit einem zentralen Aspekt der NS-Geschichte auszulösen, die über den Unterricht hinaus wirkt und hoffentlich über aktuelles Engagement hinaus anhält. Ich kann mir gut vorstellen, solche Unternehmungen trotz der aufwendigen organisatorischen Begleitumstände zu wiederholen und kann anderen nur Mut machen, Schülerinnen und Schülern vor Ort in Majdanek Geschichte erfahrbar zu lassen.
Auszug aus:
Stollberg-Wolschendorf, Beate: NS-Geschichte vor Ort erfahren. Praktikumsberichte der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schulen Bethel (Bielefeld/BRD) in der Gedenkstätte Majdanek. In: Tomasz Kranz (Hg.): Bildungsarbeit und historisches Lernen in der Gedenkstätte Majdanek. Lublin 2000: S. 183-207.
Inzwischen haben weitere Gruppen ihr Geschichtspraktikum in Majdanek absolviert und ein nächstes Praktikum ist in Planung. Inzwischen nehmen an den Praktikumsprojekten regelmäßig polnische Schülerinnen und Schüler aus Lublin teil, die, je nach Stand der Sprachkenntnisse, entweder in national gemischten oder getrennten Gruppen die Projektthemen mit bearbeiten. Inzwischen gibt es auch Kontakte zur Gedenkstätte Treblinka, über die im Rahmen des Praktikums auch gearbeitet wird. Das auf Anregung der Schülergruppen initiierte Spendenkonto für die vergessenen Shoah-Gedenkstätten in Polen existiert weiter und hat in den letzten Jahren mehrere kleinere Vorhaben in Majdanek und Treblinka unterstützt (siehe weiterführende Links).