Ort/Bundesland: Nordrhein-Westfalen |
|
Jutta Richter „aktuelles forum NRW“ Hohenstaufenallee 1-5 D-45888 Gelsenkirchen Tel.: +49 (0) 209 155 100 Fax: +49 (0) 209 155 10 29 Mail: info [at] aktuelles-forum [dot] de www.aktuelles-forum.de |
Die ersten historischen Erwähnungen über Lidice finden sich im Jahre 1300 in der Chronik des Abtes von Zbraslav. Die Ortschaft Lidice, 22 km nordwestlich von Prag und 7 km von der Kreisstadt Kladno entfernt, war bis zum 9. Juni 1942 ein unbedeutendes Dorf mit nur 503 Einwohnern und 102 Häusern.
Durch das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 wurde das Sudetenland von der Tschechoslowakei abgespalten und dem Deutschen Reich eingegliedert. Am 15. März 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Prag ein und errichtete das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Am 27. Mai 1942 wurde von tschechischen Widerstandskämpfern in Prag ein Attentat auf den SS-Obergruppenführer, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und stellvertretenden „Reichsprotektor Böhmen und Mähren“, Reinhard Heydrich, begangen. Die Gestapo hatte den Verdacht, dass das Attentat in Zusammenhang mit der Familie Horak aus Lidice stand.
Als Vergeltung und Rache wurde die Gemeinde Lidice am 10. Juni 1942 von SS- und Gestapoeinheiten geplündert, niedergebrannt, die Gebäuden gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht. Die Familien wurden auseinander gerissen, 173 Männer und männliche Jugendliche am selben Tag im Ort erschossen, 19 weitere und 7 Frauen am 16.6.1942 in Prag hingerichtet. 195 Frauen wurden ins Frauen-KZ Ravensbrück verbracht, 52 von ihnen überlebten Haft und die Todesmärsche nicht. 98 Kinder wurden nach Polen in das Jugendverwahrlager in Lodz, damals Litzmannstadt, deportiert, davon 12 zur „Germanisierung“ ausgewählt und in deutsche Familien zu Adoption gegeben, alle anderen Kinder wurden wahrscheinlich in Chelmno durch Gas ermordet.
Der Reichsdeutsche Rundfunk berichtete über die von Hitler selbst angeordnete Zerstörung, die auch filmisch dokumentiert wurde. Der Name der Gemeinde sollte für immer gelöscht werden. Die Meldung von dem Massaker rief in aller Welt Empörung und Solidarität hervor. Lidice war zum Symbol nationalsozialistischer Terrorherrschaft und Willkür gegen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg geworden. In zahllosen Orten wurden Straßen, Schulen und Plätze nach Lidice benannt.
1947 begann der Wiederaufbau eines neuen Dorfes und der Gedenkstätte. Hierzu trugen Jugendliche aus der Tschechoslowakei und anderen Ländern bei. 1955 wurde ein eingeweiht, der das Dorf mit der Mahn- und Gedenkstätte verbindet. Es wurden 28.000 Rosenstöcke angepflanzt. Die Beete in der Mitte des Gartens sind in Form einer Rosenblüte angelegt. Die Rose wurde zum Symbol für das neue Lidice und zur Botschaft der Lidice - Initiativen in aller Welt: "Lidice lebt". Die politischen Veränderungen nach 1989 hatten zur Folge, dass die Gemeinde Lidice nicht mehr über genügend Mittel und Arbeitskräfte für die Pflege des Rosengartens und Instandhaltung der Parkanlage des Mahnmals verfügte.
1999 knüpfte eine Delegation von Mitarbeitern in Jugendhilfe- und Jugendarbeitseinrichtungen des Landes Nordrhein Westfalen erste Kontakte zur Gemeinde Lidice. Zusammen mit dem Gemeinderat von Lidice wurde 2000 die Idee „Rosen für Lidice“ entwickelt:
Internationale Jugendarbeit und Begegnungen mit dem Ziel der politischen Bildung und Förderung demokratischen Engagements wird meist von Jugendorganisationen geleistet. Sozial benachteiligten Jugendlichen, die meist nur Haupt und Sonderschulen besucht haben, bieten sich kaum Möglichkeiten, an internationalen Begegnungsprogrammen dieser Art oder einem Aufenthalt im Ausland teilzunehmen, um andere Länder, Sprachen und Kulturen kennen zu lernen. Ihre persönlichen Erfahrungen von sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung beeinträchtigt ihr Selbstbewusstsein und hat oft antidemokratische Einstellungen zur Folge.
Das Projekt „Rosen für Lidice“ wurde daher explizit für diese Jugendlichen konzipiert. Mit der konkreten handwerklichen Aufbauarbeit in einem sozial und international hoch bewerteten Projekt kann ihr individuelles und soziales Selbstwertgefühl gestärkt werden. Für sich persönlich und in der Gruppe können sie erfahren, dass ihre Leistung anerkannt und gebraucht wird. Im Rahmen dieses Auslandsaufenthalts können sie Unsicherheiten und Angst vor dem Fremden abbauen und für die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und heutiger europäischer Politik auf sehr praktische Weise erlebnisorientiert motiviert werden.
Ein wichtiger Aspekt der Vorbereitung war daher, den Jugendlichen Neugier und „Lust“ auf die Fahrt ins Ausland, das Kennenlernen einer neuen fremden Umgebung und auch eine Fremdsprache als etwas Bereicherndes zu vermitteln. Die Vorbereitung muss daher möglichst abwechslungsreich hinsichtlich der verwendeten Medien, Materialien und Aktivitäten, d.h. interaktiv und nicht zu kopflastig gestaltet werden, ohne dass notwendige Inhalte zu kurz kommen.
Nach einer zweitägigen Vorbereitung fuhr Anfang Oktober 2001 die erste Gruppe - 11 Auszubildende Gärtner/innen aus Brakel und 12 Jugendliche aus Schweicheln mit Ausbildern, Lehrern und Betreuern - für zwei Wochen nach Lidice, um mit der Wiederherstellung des Rosengartens zu beginnen. In der zweiten Oktoberhälfte 2001 setzten zwei weitere Gruppen aus Moers und Duisburg die Arbeit des Rosenpflanzens fort. Die letzten beiden Gruppen der Jugendhilfe Essen und Düsseldorf vollendeten die Arbeiten im Rosengarten und weiter anfallende Arbeiten im gesamten Park. Vor Ort arbeiteten die deutschen HandwerkerInnen zusammen mit tschechischen Auszubildenden von Berufsschulen der Region.
Das Projekt war geglückt. Die Jugendlichen hatten nicht nur ihr fachliches Können unter Beweis gestellt, sondern auch in der Zusammenarbeit mit den tschechischen Jugendlichen soziale Kompetenz gezeigt. Im Dezember 2001 fand ein Auswertungstreffen der Gruppen in Essen statt Übereinstimmung bestand in allen Gruppen, dass die Jugendlichen durchweg von den Zeitzeugen sehr beeindruckt waren, und die Besuche der Gedenkstätten in Lidice und Theresienstadt nachhaltig gewirkt hatte. Bisher hatte sich niemand die Mühe gemacht, mit diesen Jugendlichen über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, so dass sie das Ausmaß der historischen Ereignisse erfassen konnten. Besonders positiv erlebten die Jugendlichen den freundlichen Empfang und die Verabschiedung in Lidice, wodurch sie sich als willkommen empfanden. Der Erfolg des Projekts war nachhaltig. Noch Wochen danach beschäftigten sich die Jugendlichen mit der deutschen Geschichte. Die Gruppe aus Schweicheln besuchte die Wehmachtsausstellung in Bielefeld und diskutierte darüber. Es wurde beschlossen, die Zusammenarbeit kontinuierlich fortzuführen.
Am 15. Juni 2002 fand als Höhepunkt der ersten Phase des Projekts die Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Vernichtung von Lidice unter großer internationaler Beteiligung statt. Auch die ca. 100 Jugendlichen aus Nordrhein Westfalen und ihre Ausbilder und Betreuer nahmen daran teil. Nach den Reden und Kranzniederlegungen wurde der Rosengarten feierlich eröffnet. Der tschechische Kultusminister dankte in seiner Rede ausdrücklich den deutschen und tschechischen Jugendlichen für ihre Arbeit. Am gleichen Tag wurde auch ein von den deutschen HandwerkerInnen aus Düsseldorf und Essen und den tschechischen Jugendlichen der Berufsschule Slany im neuen Dorf Lidice in den vorausgegangenen Wochen eingerichteter Kinderspielplatz eingeweiht. Die tschechischen Auszubildenden und ihre Lehrer wurden zum Besuch nach Nordrhein-Westfalen eingeladen.
Im Rahmen der Gedenkfeier 2002 fand ein Seminar für Jugendliche zum Thema „Europäische Jugend gegen Gewalt und Rassismus“ in Lidice und Prag statt, an dem auch Jugendliche aus anderen Märtyrerstädten teilnahmen: aus Oradour/ Frankreich, Distomo/ Griechenland und Chatyn/ Weissrussland. Die Jugendlichen aus Oradour, Distomo, Chatyn und Lidice stellten das Schicksal ihrer vernichteten Dörfer dar und besprachen Perspektiven für künftige Zusammenarbeit, die sie in einer gemeinsamen Erklärung, der „Prager Deklaration“ formulierten. Auf dem Seminar wurden weitere Projektideen für HandwerkerInnen entwickelt: Renovierung und Gestaltung von Schulen, Jugendhäusern, Kirchen, Synagogen, Moscheen, Spielpätzen, Gärten und Parks.
Im Sommer 2004 trafen sich die jugendlichen Auszubildenden der evangelischen Jugendhilfeeinrichtung Schweicheln aus den Bereichen „Garten und Landschaftsbau“ und „Maler/ Lackierer“, um gemeinsam mit ihren Meistern, Betreuern und einem Referenten aus dem Lidice-Haus in Bremen die Fahrt nach Lidice vorzubereiten.
Zum gegenseitigen Kennen lernen brachten alle TeilnehmerInnen einen „Steckbrief“ mit einem Polaroid-Foto von sich an Stellwänden an. Dann wurde das Programm der beiden Seminartage vorgestellt. Es wurde auch ein Film über Prag gezeigt, der die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt vorstellte und verschiedene Anregungen für die geplante Stadttour gab.
Die Einführung in die tschechische Sprache wurde mit einem Rap „Check into Czech“ gestaltet. In diesem Lied geht es um wichtige Sätze, die auf deutsch und tschechisch gesprochen werden. Dieses Lied und eine Liste mit wichtigen Wörtern und Sätzen nahmen sie mit nach Hause, um sich im Vorfeld schon einen minimalen Wortschatz anzueignen.
Am zweiten Tag gab es zunächst einen Einblick in die Geschichte der Tschechoslowakei bis in die Gegenwart mittels einer interaktiven Methode. Die Jugendlichen legten einen Zeitstrahl an, bei dem sie ausgewählte Gegenstände mit dem richtigen Geschichtsdatum in Verbindung brachten. Dazu zählten Symbole für den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Kommunismus, den Prager Frühling, den Eisernen Vorhang und den Beitritt in die Europäische Union.
Im Anschluss daran wurde die Geschichte der Zerstörung Lidices durch Interviews von zwei Überlebenden, Frau Marie Šupiková, geborene Doležalová und Frau Kalibová, vermittelt. Frau Kalibová kam damals mit vielen anderen Frauen ins KZ nach Ravensbrück zur Zwangsarbeit. Frau Šupiková war damals ein Kind von 10 Jahren und wurde nach der Deportation der Kinder von Lidice nach Lodz von einer deutschen Familie zwangsadoptiert. Erst 1946 kam sie in ihre Heimat zurück und sah ihre Mutter, die schwer krank aus Ravensbrück zurückgekommen war, in einem Prager Krankenhaus wieder. Beide konnten sich nicht mehr miteinander verständigen, denn Marie hatte die tschechische Sprache seit ihrer Verschleppung nicht mehr sprechen dürfen und dadurch verlernt. Die Mutter starb vier Monate nach dem Wiedersehen.
Die Frage, die im Anschluss an diese eindrücklichen Zeitzeugenberichte an alle in der Gruppe gestellt wurde, hieß: „Was bedeutet Krieg für mich?“. Die Assoziationen wurden auf Zettel geschrieben und an die Stellwand geheftet und lauteten: Verlust von Freunden, Bekannten und Familie, Tote, Hass, Kampf, Streit, Zerstörung von Städten/Orten, Krankheiten, Hunger, Trauer, Angst, Seuchen, Elend, Armut, Kummer, Qual, Tränen, Eroberung, Unterwerfung, Gefangenschaft, Mut, Tapferkeit. Menschen lassen ihren grausamen Phantasien ungehemmt freien Lauf: foltern, töten, verstümmeln, erniedrigen, beherrschen. Fanatismus, Vergewaltigung, Verzweiflung, Flucht, Hilflosigkeit, Obdachlosigkeit, Vergasung.
Nachmittags besuchte eine Zeitzeugin, Frau van Spankeren, die Gruppe, um Ihnen von ihren Erfahrungen während des Nationalsozialismus in Deutschland zu erzählen und ihre Fragen zu beantworten. Sie kam aus einem christlichen Elternhaus und hatte durch die Erfahrungen ihres Großvaters, der „Mein Kampf“ gelesen hatte, eine ungefähre Vorstellung, was nach der Machtergreifung passieren würde. Sie wusste um die schwierige Position der Kirche und ließ sich jedoch nicht davon abbringen, Theologie zu studieren. Sie schilderte anschaulich die damaligen Umstände. Sie selber war 1966 zu Besuch in der Gedenkstätte Lidice mit einem Professor, der damals im Konzentrationslager war. Heute sieht sie ihre Aufgabe darin, mit Jugendlichen über diese Themen zu sprechen, um Erfahrungen weiterzugeben. Sie möchte das Andenken an die Menschen aufrechterhalten, die gestorben sind und gelitten haben. Anderen Menschen will sie nahe legen, kritisch zu sein und Werte wie Liebe, Fürsorge und Solidarität zu vertreten. Das Vorbereitungsseminar motivierte die Jugendlichen nachhaltig für die Fahrt, die Arbeit am Rosengarten in Lidice und die neuen Erfahrungen.
Insgesamt nahmen 20 Auszubildende und fünf pädagogische Anleiter der Jugendhilfeeinrichtung aus Schweicheln im Kreis Herford in Ostwestfalen an dieser 11-tägigen Fahrt teil. Am Ankunftstag machten sie eine Führung durch den Rosengarten und das Dorf Lidice und begannen auch gleich mit ihrer Arbeit: Eine Gruppe Auszubildender des Garten- und Landschaftsbaus kümmerte sich um die Pflege des Rosengartens. Es waren Rosen zu beschneiden, Unkraut zu jäten und das angrenzende Waldstück zu säubern. Die Maler/Lackierer Gruppe befaßte sich damit, die zahlreichen Bänke im Rosengarten frisch zu streichen. Da sie noch mehr Zeit zur Verfügung hatten, strichen sie auch die Straßenlaternen, Mülleimer und die Wand des Gemeindehauses. Weitere wichtige Programmpunkte waren der Besuch von Theresienstadt sowie das Gespräch mit einer Zeitzeugin, die das damalige Massaker überlebt hatte.
Am Wochenende wurde ein Stadtspiel in Prag organisiert. Als Freizeitaktivitäten traten sie in einem Fußballspiel gegen SV-Sokol Lidice an, veranstalteten ein Kartrennen und unternahmen einen Ausflug zum See. Da die meisten Jugendliche noch nie ins Ausland gereist waren, waren sie zunächst unsicher und skeptisch, was sie in Tschechien erwarten würde. Durch die neuen Erfahrungen änderte sich allerdings diese Einstellung. Sie zeigten sich viel aufgeschlossener und offener gegenüber anderen Menschen als vorher, und ihnen gefiel der völkerverbindenden Charakter des Projekts. Die Direktorin des Gedenkzentrums, der Bürgermeister und die Bewohner von Lidice waren von der Arbeit der Jugendlichen begeistert. Die Jugendlichen waren ihrerseits stolz auf ihre Leistungen, genossen die angenehme Atmosphäre, den guten Kontakt zu den Bewohnern und die schöne Umgebung.