Visuelle Medien beeinflussen unsere Vorstellungen von Geschichte. Dokumentarfilme mit historischen Themen machen die Vergangenheit gegenwärtig, denn das Filmbild für sich genommen stellt eine "ewige Gegenwart" dar (Gertrud Koch). Einige Dokumentarfilme haben den filmischen Herstellungsprozess von Geschichte selbst zum Thema gemacht, z.B. indem sie den Aufnahmeprozess transparent machen und eine filmende Kamera im Bild zeigen. Damit knüpfen diese Filme an neuere Diskurse in der Geschichtswissenschaft an, die die vermeintliche Objektivität der Geschichtsschreibung selbst reflektieren.
Eine weitere Gemeinsamkeit von Dokumentarfilm und Geschichtswissenschaft liegt darin, dass sie der Gegebenheit der Welt verpflichtet sind. Die dargestellten historischen Ereignisse, Personen, Prozesse haben tatsächlich stattgefunden. Eva Hohenberger und Judith Keilbach weisen darauf hin, dass diese Verpflichtung auf die Realität sich in einer "Rhetorik des Faktischen" widerspiegelt, die sich sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im Dokumentarfilm findet. In der Geschichtswissenschaft wird die Realität eines Ereignisses unter anderem durch die Benennung von Quellen und Zeugnissen beglaubigt - sowie durch den "Verzicht auf Zeichen, die auf die Aussageinstanz der Geschichtsdarstellung" verweisen, ganz so, als würde sich die Geschichte selbst erzählen.
Auch Geschichtsdarstellungen im Dokumentarfilm basieren auf realen Ereignissen, Personen, historischen Prozessen oder Strukturen. Auch in diesem Medium werden Quellen und Zeitzeugenaussagen mittels Montage zu einer Narration verflochten. Der filmische Stil, wie Geschichte erzählt wird, ist dabei allerdings vielfältig und wird mittels eigener dokumentarischer filmsprachlicher Mittel erzeugt - den sogenannten dokumentarischen Modi der Repräsentation. Diese konstruieren einen spezifischen Zugang zur Vergangenheit. Entlang dieses Zuganges kann der Zuschauer das Erzählte aufnehmen und verarbeiten.
Die Analyse des dokumentarischen Stils, also wie der Film seinen Zugang zur Realität gestaltet, ist gerade für den Geschichtsunterricht unerlässlich. Es ist eine pädagogische Aufgabe sichtbar zu machen, ob der Film Geschichte so erzählt, als zeige er einen unmittelbaren objektiven Zugang zur Thematik, oder ob er seine mediale Inszenierung thematisiert und sichtbar macht. Ein "allwissender" Erzähler, der eine scheinbar eindeutige historische Narration liefert, erzeugt einen anderen Blick auf Geschichte, als der interaktive Zugang eines Filmemachers, der selbst im Film auftritt und sichtbar eingreift (wie z.B. der Regisseur Claude Lanzmann in seinem Film "Shoah").
Der reflexive Film legt Wert darauf, den Prozess des Filmens und die Qualität des filmischen Mediums offenzulegen - dies geschieht z. B., indem der Prozess des Filmens im Dokumentarfilm gezeigt wird, oder der Prozess der Montage ein Teil der Filmhandlung ist.
"[D]er klassische Dokumentarfilm (damit gemeint sind Filme mit ausgewiesener, persönlicher Handschrift des Autors) ist selbst zu einer Subform der Dokumentarfilmgattung geworden." Dieser Einschätzung des Dokumentarfilmers Thomas Schadt ist zuzustimmen - klassische Dokumentarfilme sind gegenüber einer Vielzahl von Doku-Formaten wie Dokumentation, Dokutainment, Doku-Soap etc. längst in der Minderzahl.
Im Unterschied zu anderen Doku-Formaten, wie der journalistisch geprägten TV-Dokumentation ist der klassische Dokumentarfilm eigentlich ein Autorenfilm. Jeder Dokumentarfilm ist in gewisser Weise ein Einzelstück, das die Handschrift seiner Regisseure und Regisseurinnen trägt. Die Handschrift stellt eine bestimmt kreative und individuelle Weise dar die Wirklichkeit zu verarbeiten. Dabei lassen sich folgende Subgenres ausmachen, die auch in ihrer Verarbeitung von Geschichte unterschiedlich verfahren.
Diese Filme wählen einen möglichst realitätsnahen, dokumentarischen Zugang. Sie präsentieren z.B. durch Interviews mit ExpertInnen oder das Abfilmen von Dokumenten eine Nähe zum historisch-wissenschaftlichen Diskurs und verwenden wenige filmische Mittel der Inszenierung und Verfremdung sowie einen sparsamen Einsatz dramatisierender Musik.
Einige dieser Dokumentarfilme erzählen Geschichte über eine (meist männliche) Autorität verströmende Erzählerstimme im Voice-Over. Andere Filme erzeugen dagegen einen multiperspektivischen Blick auf Geschichte. Sie fügen die Aussagen von Expertinnen und Experten oder und Zeitzeugen in der Montage zu einem komplexen Bild über die Vergangenheit zusammen. "Menschliches Versagen" (Regie: Michael Verhoeven, 2008) hat diesen Zugang gewählt, um anhand von Dokumenten zur "Arisierung" die Geschichte des großangelegten staatlichen Raubs an der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus zu erzählen.
In diesem Subgenre ist heißt die Leitfrage nicht "Was passierte?" sondern "Wie ist die offizielle Version der Geschichte entstanden". Offensichtlich fiktionale Szenen werden hervorgehoben. Diese Filme möchten nämlich darauf hinweisen, dass "die Geschichte" letztendlich das Ergebnis eines Prozesses ist, in dem unterschiedliche Versionen zu einer Version vereinheitlicht werden. Diese Version gilt dann als objektive Wahrheit.
Entsprechend der Annahme, dass Geschichte sich nicht von selbst erzählt, sondern von unterschiedlichen Standpunkten aus erzählt wird, werden in diesem Dokumentarfilmtyp Interviews mit Menschen, die häufig unterschiedliche soziale Rollen und Machtpositionen verkörpern im Schnitt multiperspektivisch aneinandermontiert.
Die Dokumentarfilme "The Thin Blue Line" (Regie: Erroll Morris, 1988) sowie "Standard Operating Procedure" (Regie: Erroll Morris, 2008), der die Misshandlungsfälle an Kriegsgefangenen in Abu Graib untersucht, verfahren nach diesem Muster. Musik kann in diesem Filmtyp, der fiktionale Elemente verwendet, ein dramaturgisches Element darstellen, um Spannung zu erzeugen oder um Akzente zu setzen.
Diese Filme verknüpfen die persönliche mit offizieller Geschichte. Sie wählen einen Zugang zur Geschichte, der die subjektive Perspektive und den Prozess von Erinnerung in den Mittelpunkt stellt. Der Zugang zur Wirklichkeit im persönlichen Dokumentarfilm wird fast immer über einen Ich-Erzähler im Voice-Over erzeugt. Dieser teilt dabei häufig auch seine Gedanken und Gefühle mit und vermittelt dadurch einen ausdrücklich subjektiven Blick auf Wirklichkeit.
Die subjektive inhaltliche Verarbeitung von Geschichte findet ihre Entsprechung häufig in einer ungewöhnlich kreativen filmischen Form. So erzählte der israelische Filmemacher Ari Folman in "Waltz with Bashir" (2008) seine autobiografischen Erfahrungen als Soldat im ersten Libanon-Krieg als animierten Dokumentarfilm.
Auch der deutsche persönliche Dokumentarfilm "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" (Regie: André Schäfer, 2008) arbeitet nicht nur mit dokumentarischem Material über die Vergangenheit der Hauptfigur: Für die Darstellung der Kindheit des Ich-Erzählers re-inszeniert der Film Super-8-Aufnahmen mit dem heute dreijährigen Sohn der Hauptfigur. Die Wahl des Mediums Super-8 für die Re-Inszenierungen verweist darauf, dass hier (persönliche) Geschichte - wie im Erinnerungsprozess - (wieder-)hergestellt wird. Dabei wird miterzählt, dass Kindheitserinnerungen nachträglich meistens in ebenso verklärende Farben gehüllt sind wie die Familienfilme in den warmen Super-8-Farben.
Die Wahl des Filmmaterials (historische Archivaufnahmen, Familienfilm etc.) erzählt also auch etwas über den dokumentarischen Zugang zu Geschichte. Weitere typische filmische Mittel im persönlichen Dokumentarfilm können eine bewusst wackelnde Kameraführung sein, die die unprofessionelle Handkamera von Super-8-Familienfilmen nachahmt. Musik wird häufig eingesetzt, um die Atmosphäre einer vergangenen Zeit zum Leben zu erwecken.
Dokumentarfilme stellen keinen "authentischen" Zugang zu Geschichte dar, sie inszenieren reale Begebenheiten auf kreative Weise. Gemeinsam ist allen Subgenres des Dokumentarfilms, dass es bestimmte Elemente gibt, die regeln, wie die "Stimme der Geschichte" zu den Zuschauern spricht. Diese Inszenierungen offenzulegen und zu analysieren muss ebenso Bestandteil der pädagogischen Auseinandersetzung mit Dokumentarfilmen sein, wie die Beschäftigung mit dem präsentierten Inhalt.
Gerade der Dokumentarfilm als Medium, das reale Geschichte bzw. Realität behandelt, eignet sich, um einen postmodernen Blick auf Geschichte/n ermöglichen. Die Beschäftigung mit Dokumentarfilmen lässt Jugendliche verstehen, warum sie nicht "die Geschichte" sondern Geschichtserzählungen miteinander erforschen, analysieren, dekonstruieren und konstruieren.
Eine allgemeine Einführung zum Thema "Dokumentarfilm und Geschichte" bietet:
Zum Thema Zeitzeugen im Dokumentarfilm:
Mit didaktischen Fragestellung zum Dokumentarfilm beschäftigen sich:
Didaktische Materialien zur Rolle von Zeitzeugen im Dokumentarfilm: