1997, unmittelbar nach dem Tode seiner Frau, mit der er fast 50 Jahre verheiratet war, fand Dr. Werner Cohen eine Reihe von alten Schulheften ganz unten in einer Schublade. Diese unscheinbaren Kladden enthielten rund 150 Gedichte und eine Reihe Prosatexte in deutscher Sprache, über die seine Frau Hilda Stern Cohen nie mit ihm gesprochen hatte. Seite für Seite hat er die Schulhefte danach übertragen und dabei eine wahrlich talentierte Schriftstellerin entdeckt, die ihm bis dahin verborgen war. Mehr noch: Er konnte völlig neue und zutiefst bewegende Einblicke in die Erfahrungen seiner Frau als Kind in Deutschland und als junge Frau im Lodzer Getto und in Auschwitz gewinnen.
Als er nach einer Möglichkeit suchte, das Werk Hilda Stern Cohens einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat Werner Cohen, selbst deutscher Abstammung, sich an das Goethe-Institut in Washington gewandt, das schnell die bemerkenswerte literarische Qualität des Werkes sowie die historische Bedeutung erkannte. Als nächstes folgte die Kontaktaufnahme mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen, die ganz in der Nähe der kleinen hessischen Landgemeinde liegt, in der Hilda Stern 1924 geboren wurde. Dank dieser Umstände werden diese Texte, die den Kampf einer jungen deutsch-jüdischen Frau zeigen, sich von den durch die Nazis zugefügten Wunden zu heilen, nun endlich veröffentlicht.
1945 kam Hilda Stern als Flüchtling nach Österreich, wo sie darauf wartete, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Die tief gläubige junge Frau hatte ihre Eltern und Großeltern verloren, konnte selbst aber das Lodzer Getto und Auschwitz überleben. Während der Monate, die Hilda auf ihr Visum für Amerika in der österreichischen Provinz wartend zubrachte, schrieb sie Gedichte und viele andere Texte: Darunter Stücke, die sie bereits früher ersonnen und bis dato noch nicht zu Papier gebracht hatte, aber ebenso ganz neue Gedichte, die ihre Gefühle über das Leben im „Weder-hier-noch-dort“ der „Displaced Persons“-Camps ausdrückten.
Als sie endlich in den USA war, schrieb Hilda noch eine ganze Zeit lang weiter, gab es aber schließlich zusammen mir ihrer einstigen Muttersprache Deutsch auf: auch als Teil ihrer Anpassung an ein neues Leben. Der Titel der Textsammlung ist einem Gedicht entnommen, in dem Hilda Stern Cohen bitterlich darüber klagt, wie ihre eigene Selbstwahrnehmung an eine Sprache und Kultur gebunden ist, die versuchte, sie zu zerstören.
Genagelt ist meine Zunge wird als Band 2 in der Schriftenreihe "Memento" der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich veröffentlicht. Die Publikation ist ein gemeinsames Projekt der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und des Goethe-Instituts Washington, DC, in Zusammenarbeit mit Werner V. Cohen, Baltimore, Maryland. Herausgegeben wird der Band von Erwin Leibfried und Sascha Feuchert, Arbeitsstelle für Holocaustliteratur, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen sowie William Gilcher, Goethe-Institut Washington, DC, mit Unterstützung der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich, er ist versehen mit einem Vorwort von Werner V. Cohen und einem Epilog über die Geschichte jüdischen Lebens in Oberhessen von Klaus Konrad-Tromsdorf.