Stellen Sie sich vor, Sie sind ein 17-jähriger Jugendlicher in Deutschland und bereiten sich auf Ihr Abitur 2026 vor. Gleichzeitig machen Sie sich Gedanken über Ihre Zukunft: Was mache ich nach dem Abi? Gehe ich ins Ausland, vielleicht über einen Freiwilligendienst? Studieren möchte ich schon noch, aber was? Oder jobbe ich erst einmal, um mir genau zu überlegen, was ich studieren möchte und dafür schon einmal Geld beiseitelegen zu können?!
Zu diesen Gedanken gesellt sich ein weiterer, der mit der aktuellen Diskussion um die Rückkehr zur Wehrpflicht verbunden ist: Muss ich nicht doch sowieso erst einmal „zum Bund“? Das ist der Moment, in dem der Staat in die freiheitliche Lebensgestaltung der Jugendlichen eingreift und sie mit der Frage des Sterbens und des Tötens in kriegerischen Konflikten konfrontiert.
Lehrkräfte in Schulen haben Jugendliche mit diesen Gedanken vor sich sitzen; besonders Lehrer*innen der Fächer Politik oder Ethik fällt die Aufgabe zu, dieses Thema zu behandeln. Es ist ein Themenfeld mit zwei Ebenen: Einerseits gilt es, die politisch-historischen und ethischen Grundlagen der (aktuellen) Debatte zu vermitteln. Andererseits muss ein sensibler Umgang mit den Schüler*innen gefunden werden, da sie konkret von der Wehrpflicht betroffen sein können.
Wir haben vier Unterrichtsmaterialien kritisch analysiert – hinsichtlich ihrer Inhalte, ihrer fachlichen und methodischen Tiefe, ihrer didaktischen Aufbereitung sowie ihres Potenzials für den Einsatz im Unterricht. Im Folgenden stellen wir unsere Ergebnisse vor:
Das kompakte Material des Cornelsen Verlags für den Politikunterricht der Klassenstufen 10−13 versammelt vier Themenblöcke. Der erste dieser Blöcke (M1) führt in das Thema Wehrpflicht ein. Im Weiteren werden das derzeit in Deutschland viel debattierte schwedische Modell beschrieben (M2), eine Umfrage zum Thema präsentiert (M3) sowie parteipolitische Positionen dargestellt (M4). Ergänzt werden diese Themenblöcke mit Fragen, Lösungsvorschlägen und methodisch-didaktischen Hinweisen.
Das Unterrichtsmaterial eignet sich besonders gut für die Auseinandersetzung mit dem schwedischen Modell. Neben einer ausführlichen Beschreibung des Modells enthält es auch einen Hinweis auf einen Audio-Beitrag des Deutschlandfunks, der einen sinnvollen Medienwechsel ermöglicht. Das abgebildete parteienpolitische Spektrum bietet eine gute Grundlage für eine vertiefende Diskussion über die Wehrpflicht im Kontext der Parteienpolitik. Da jedoch lediglich die Positionen von drei Parteien (CDU, SPD und FDP) berücksichtigt werden, ließe sich das Material sinnvoll erweitern: Die Schüler*innen könnten beispielsweise selbst eine Umfrage an der Schule oder in ihrem privaten Umfeld durchführen, um weitere Meinungen und Perspektiven einzubeziehen.
Das im Jahr 2024 veröffentlichte Material ist inhaltlich auf der Höhe der aktuellen Debatte, geht jedoch thematisch nicht darüber hinaus. Bei der Bearbeitung des Themas Wehrpflicht mithilfe dieser Arbeitsblätter bleiben die Nutzer*innen an der Frage der Wiedereinführung orientiert. Wichtige Anschlussfragen – etwa zu Kriegsdienstverweigerung, Ersatzdienst oder dem breiten Aufgabenspektrum innerhalb der Bundeswehr – werden nicht thematisiert und können mit diesem Material nicht bearbeitet werden. Die im Material enthaltene Umfrage bleibt in ihrer Aussagekraft begrenzt. Auch die eher plakativ eingesetzte Karikatur zum Thema „Kriegstüchtigkeit“ entfaltet ihr Potenzial nicht, da sie lediglich illustrativ verwendet wird und nicht in die Aufgabenstellung integriert ist. Angesichts ihrer interessanten Metaphorik ist es bedauerlich, dass sie ungenutzt bleibt. Die Lösungshinweise zu den offenen Fragen bleiben insgesamt oberflächlich und liefern lediglich knappe Impulse, statt die inhaltliche Tiefe zu fördern.
Empfohlen werden kann das Material insbesondere für eine Diskussion rund um das schwedische Modell. Der Text und der begleitende Audiobeitrag bieten eine gute Grundlage für eine lebendige Diskussion, die auch an die Lebenswelt der Jugendlichen anknüpft.
Der Text ist ein persönlicher Erfahrungsbericht der Soldatin Nina über ihre Karriere bei der Bundeswehr, ihre Einsätze und die Herausforderungen, denen sie begegnet.
Auch wenn es sich nicht um klassisches Bildungsmaterial handelt, bietet der Einsatz im Unterricht aus mehreren Gründen einen didaktischen Mehrwert. Zum einen eröffnet der Bericht eine geschlechterspezifisch weibliche Perspektive auf den Wehrdienst, die im öffentlichen Diskurs häufig unterrepräsentiert ist. Zum anderen stammt der Text aus dem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Fluter-Magazin, das sich explizit an Jugendliche richtet und dessen Themenauswahl, Duktus und Sprache sich an dieser Zielgruppe orientieren. Gerade durch den biografischen Zugang des Berichts entsteht eine besondere Nähe zur Lebenswelt junger Menschen, was den Text zu einem geeigneten Einstieg in die Auseinandersetzung mit Wehrpflicht und Bundeswehr macht.
Wird der Text im Unterricht eingesetzt, muss er unbedingt mit einer Unterrichtskonzeption einhergehen, die auch weitere Informationsquellen bereitstellt. Denn für sich alleinstehend bietet er keine ausreichende inhaltliche Diskussionsgrundlage: Es fehlen sowohl konkrete Aufgabenstellungen als auch weiterführende Hintergrundinformationen. Zwar enthält er einige verlinkte Begriffe, jedoch führen die lediglich zu anderen Artikeln aus dem Fluter-Magazin und nicht zu weiterführenden Materialien.
Im Rahmen einer Unterrichtseinheit zur Wehrpflicht kann der Bericht daher vor allem als anregender Einstieg aus geschlechterspezifischer Perspektive dienen. Für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema sind jedoch ergänzende Quellen und Materialien unerlässlich.
Das Material des Raabe Verlags ist zweigeteilt aufgebaut. Im ersten Teil wird anhand von Nachrichten und Quellen – darunter auch ein Auszug aus dem Grundgesetz − erläutert, was die Wehrpflicht ist. Der zweite Teil regt zur Diskussion an, basierend auf einem zwei Jahre alten Debattenbeitrag. Die zentrale Aufgabe besteht hier in einer Transferleistung: Die Schüler*innen sollen herausarbeiten, welche Aspekte weiterhin relevant sind und was sich in der aktuellen Debatte verändert hat. Abgerundet wird das Material mit einem detaillierten Erwartungshorizont sowie durch didaktisch-methodische Hinweise.
Diese sehr aktuelle Zusammenstellung vom März 2025 bietet eine Vielzahl zeitgenössischer Berichte zum Thema Wehrpflicht, zumeist aus öffentlich-rechtlichen Medien. Die vielen kurzen Informationsblöcke fügen sich zu einem breiten Informationsportfolio zusammen, das von der Lehrkraft flexibel eingesetzt werden kann, auch nur in Auszügen. Die Arbeitsblätter sind direkt mit Aufgaben versehen und somit ohne umfangreiche Bearbeitung im Unterricht verwendbar. Der zweite Teil fordert von den Schüler*innen eine Abstraktionsleistung: Sie müssen den Debattenstand von 2023 analysieren und dessen heutige Relevanz bewerten.
Das Material stellt hohe Anforderungen: Es setzt ausgeprägte analytische Fähigkeiten, ein solides Kontextwissen zur Wehrpflicht sowie ein Verständnis der politischen Akteur*innen voraus. Damit eignet es sich vorrangig für den Leistungskurs Politische Bildung in der gymnasialen Oberstufe. Allerdings ist es ausgesprochen textlastig – bis auf eine Statista-Grafik wird ausschließlich Text präsentiert. Anregungen für einen kreativen Medienwechsel fehlen hingegen. Ebenso vermisst man eine Erweiterung des Themenspektrums – wie etwa zur Kriegsdienstverweigerung oder den Wehrdienst ersetzende Dienste. Didaktisch sinnvoll wäre es daher, einen Schwerpunkt zu setzen oder es über Gruppenarbeiten erschließen zu lassen.
Die unmittelbare Einsetzbarkeit der Arbeitsblätter ist ein klarer Vorteil. Der Debattenbeitrag im zweiten Teil bildet das Thema Wehrpflicht detailliert und differenziert ab. Die Anforderungen der Aufgaben sind hoch, was das Material nicht überall einsetzbar macht. Allerdings könnte die starke Fokussierung auf öffentlich-rechtliche Medien eine gewisse Einseitigkeit erzeugen – hier wäre es Aufgabe der Lehrkraft, gegebenenfalls alternative Perspektiven zu ergänzen.
Das Unterrichtsmaterial der Bundeszentrale für politische Bildung widmet sich dem ebenfalls aktuell viel diskutierten Thema eines gesellschaftlichen Pflichtjahres, in das die Wehrpflicht eingebunden sein könnte. Ein langer Essay der Autor*innen Rabea Haß und Grzegorz Nocko führt in die Geschichte der Wehrpflicht, des Zivildienstes und der Freiwilligendienste ein und mündet in der gegenwärtigen Debatte über ein Pflichtjahr. Ein didaktischer Kommentar von Christopher Hermes macht das Material für den Unterricht nutzbar und strukturiert die dazugehörigen Arbeitsblätter.
Im Vergleich zu den anderen Materialien bleibt dieses Material nicht dem engen Rahmen der Thematik Wehrpflicht verhaftet, sondern erweitert diesen sinnvoll um die Diskussion um ein gesellschaftliches Pflichtjahr. Gerade angesichts der oft wiederholten Parole von der „deutschen Wehrfähigkeit“ ist diese Perspektivenerweiterung sinnvoll, da viele der hier präsentierten Modelle in der aktuellen Debatte unterzugehen scheinen. Hier wiederum werden unterschiedliche Medienarten (Text, Karikaturen, Zeitungsausschnitte, Statistiken) sinnvoll kombiniert und QR-Codes für Zusatzinformationen eingesetzt. Die Arbeitsblätter bieten einen sukzessiven Einstieg in das Thema Pflichtdienst und können direkt bearbeitet werden. Inhaltlich beleuchtet das Material das Thema auf der politischen, historischen, gesellschaftlichen und ethischen Ebene, was eine fächerübergreifende Verwendung erlaubt.
Die Vielfalt des Materials kann für Lehrkräfte aber auch eine Herausforderung darstellen, da eine gezielte Auswahl und Strukturierung erforderlich sind. Wird der Fokus ausschließlich auf die Wehrpflicht gelegt, eignet sich das Material nur bedingt, da es das Thema bewusst erweitert. Zudem ist der einführende Essay wissenschaftlich formuliert und möglicherweise nicht in allen Lerngruppen ohne Weiteres einsetzbar. Doch mit den kleinteiligen Aufgaben der Arbeitsblätter lässt sich eine Differenzierung vornehmen, so dass das Material bereits in der Sekundarstufe I eingesetzt werden kann. Das Material ist besonders empfehlenswert, wenn eine Verengung auf das Thema Wehrdienst bewusst vermieden und stattdessen eine breitere gesellschaftliche Diskussion angestoßen werden soll.
Trotz ihrer jeweiligen Stärken lassen die untersuchten Materialien zentrale Fragen und Themenbereiche unberührt, die den Diskurs um Wehrpflicht und gesellschaftliche Dienste sinnvoll erweitern könnten:
- Wie werden ein Krieg, die Aufrüstung oder die Wehrtüchtigkeit finanziert? Wie teuer wäre die Wiedereinführung der Wehrpflicht?
- Müssen Konflikte zwingend militärisch gelöst werden? Welche Chancen werden Diplomatie, Entspannungspolitik und gewaltfreier Konfliktregelung eingeräumt? Diese Fragen könnten aktuell etwa am Beispiel des Kriegs in der Ukraine behandelt werden.
- Welchen Stellenwert messen wir als Gesellschaft der selbstbestimmten Lebensplanung und den Freiheitsrechten junger Menschen zu?
- Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen der grundsätzlichen Ablehnung von Krieg und Gewalt und der breiten gesellschaftlich-medialen Zustimmung zur „Kriegstüchtigkeit“ erklären? (Nymoen 2025: 20−21)
Nymoen, Ole: Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit, Hamburg 2025.