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Von Oliver Plessow
Wer Täterschaft im Zuge von staatlichen Massenverbrechen und Kriegsgewalt zum Gegenstand historischen Lernens macht, begibt sich in einen herausfordernden Diskurs, an dem mehrere Fachdisziplinen teilhaben und in den verschiedene etablierte kollektive Denkmuster hineinspielen. Diese Herausforderungen erwachsen zuvorderst nicht nur aus der unterschiedlichen Bedeutung, welche die Geschichtsforschung dem Phänomen der Täterschaft im Laufe der Zeit als Erklärungsgröße zugewiesen hat, und aus dem wechselhaften erinnerungskulturellen Umgang mit ihr, sondern ebenso aus Grundfragen, was Wege historischen Vermittelns betrifft. Das sollte nicht überraschen, führt die Beschäftigung mit Täterschaft doch zu einer der fundamentalsten Fragen, die sich historisch-politische Bildung (und nicht nur sie) stellen kann: Wie kommt es zu massenhafter vernichtender Gewalt und wie kann sie verhindert werden? Dass es hier nicht die eine, unverbrüchliche Erklärung und darum auch nicht die eine, verbindliche politische oder pädagogische Antwort gibt, ist offensichtlich.
Die historische Fachwissenschaft, die Geschichtstheorie, die Geschichtsdidaktik, die Sozialpsychologie, die Philosophie, die Memory Studies, die Gedenkstättenpädagogik – sie alle haben hierzu Gewichtiges zu sagen. Die Zeitgeschichtsforschung spielt hier insofern eine zentrale Rolle, als die Konflikte des 20. Jahrhunderts und hier insbesondere die mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung stehenden Gewalttaten den Kristallisationspunkt aller einschlägigen Debatten darstellen. Ihr Blick auf Täterschaft im Kontext massenhafter Gewalt und insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus ist Ergebnis einer langen Entwicklung. Schon zu Beginn der 1990er Jahre wurden die entscheidenden Impulse gesetzt: Raul Hilberg, der große Pionier der Holocaust-Forschung, schrieb über „Täter – Opfer – Zuschauer“, Christopher Browning zeitgleich über „ganz normale Männer“ und wenig später Daniel Goldhagen über „Hitlers willige Vollstrecker“. Hier und in vielen anderen Studien offenbarte sich ein neues Interesse an den Handlungen der vielen einzelnen Menschen. Damit war ein Kontrapunkt zu gleich zwei Strömungen gesetzt: einerseits zu einem wegen seiner Tendenz zur Schuldabwehr nunmehr stark diskreditierten, eingeschränkten Blick auf die Schuld der NS-Führungselite und andererseits zu einem stark in Schichten, Klassen und Sozialgruppen denkenden verallgemeinernden Ansatz. Letztlich eröffnete diese Schwerpunktverschiebung den Blick auf das alltägliche Geschehen und die daran Beteiligten: Wer erfüllte seine jeweilige Rolle in seinem sozialen Raum in welchem Maße und wer nicht? Wer hatte in welcher Situation welche Spielräume, eine Handlung auszuführen oder zu unterlassen, ertragen zu müssen oder sich ihr entziehen zu können?
An die Soziologie angelehnte Konzepte von „Agency“ versuchen dabei, das Handeln der Einzelnen innerhalb des gesellschaftlichen Rahmens und ihre Interaktionen nachvollziehbar zu machen; sie schlagen zugleich den Bogen in die Gegenwart, indem sie Fragen individueller Verantwortlichkeit auch unter schwierigsten Umständen thematisieren. Alltags- und mikrogeschichtliche Ansätze bis hin zu einer „Geschichte von unten“ unterstützen eine solche Herangehensweise. Für die Lehren, die aus vergangener Gewalt gezogen werden können, ist dies so immens wichtig, weil die Untaten damit nicht mehr als das Werk einiger weniger Übeltäter, sondern ansonsten durchschnittlicher Menschen begriffen werden. Das hat gravierende Folgen: Die Welt sieht anders aus, wenn sich jeder potenziell als Täter*in erkennen muss. Dabei ist es ein markanter Unterschied, ob man diese Gefahr mit der Sozialpsychologie als allgemein menschlich begreift – man denke an das Milgram-Experiment oder das Stanford-Prison-Experiment und ihren großen Einfluss auf Wissenschaft und Medien – oder den kollektiven Mentalitäten bestimmter Großgruppen zuschreibt, also etwa einem spezifisch „deutschen“ Kadavergehorsam, Bürokratismus, Militarismus oder Antisemitismus.
Unübersehbar sind also die Linien, die von der zeithistorischen Forschung hin zu einer Vermittlungsarbeit führen, die im Zuge eines reflexiven historischen Lernens ein Interesse für Täter*innen, Opfer und Zuschauer*innen sowie darüber hinaus für Widerständige und Retter*innen entwickelt – und dies nicht nur in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus, für die dieser Ansatz besonders einschlägig ist. Wichtige Pfade führen ebendahin auch aus der Pädagogik und der Geschichtsdidaktik. Seit Jahrzehnten will Letztere die „Personalisierung“, mithin die unerwünschte Fixierung auf „große“ Persönlichkeiten, durch die „Personifizierung“ ersetzt wissen, also die Ausrichtung der Geschichtsdarstellung am Leben und Leiden „normaler“ Menschen, die beispielhaft für ihre jeweilige Sozialgruppe eintreten. Dies betrifft nicht nur das formale Schulsystem und die in ihm Tätigen. In logischer Konsequenz bedienen sich ebenso Museen, Gedenkstätten, Archive und andere non-formale Bildungseinrichtungen ausgiebig biografischer Verfahren, um historische Lernvorgänge einzuleiten. Vorschub leisten dem die ausgiebigen Rückgriffe auf Zeitzeug*innen in Publikationen und Bildungsarbeit sowie die mehr oder weniger an die Wirklichkeit angelehnten Fiktionalisierungen im Spielfilmformat. Schon die bahnbrechende Mini-Serie „Holocaust“ von 1978 zeichnet eben nicht nur die in der Familie Weiß exemplifizierten unterschiedlichen Wege der Opfer, sondern in Gestalt der mit ihr ausgangs verbundenen Familie Dorf und insbesondere der Figur des Erik Dorf auch den Weg in die Täterschaft nach. Kein Wunder, dass der Fokus auf das Leben und Handeln einzelner und ihre jeweilige Position zum Gewaltgeschehen inzwischen vielfach in Bildungsmaterialien zu Massenverbrechen und Diktaturen der Vergangenheit implementiert ist. Auch hier allen voran stehen die Materialien zu Nationalsozialismus und Holocaust/Schoah, wie nicht zuletzt Beispiele zeigen, die über die Jahre auch vom Portal „Lernen aus der Geschichte“ thematisiert wurden.
Was bezweckt diese Fokussierung auf das individuelle Handeln in Lernkontexten? Zunächst erscheinen die einzelnen Betrachteten als Repräsentant*innen der Täter*innen, Opfer und der anderen beteiligten Akteursgruppen. Sie machen diese greifbar und entreißen sie der Anonymität. Eine zentrale Funktion besteht ferner darin, Lernende für eine durchdenkende Auseinandersetzung geeignete Identifikationsfiguren zu bieten. Das meint nicht, dass diese die jeweilige Perspektive für sich vollständig übernehmen oder gar billigen sollen, vielmehr geht es darum, die jeweiligen Entscheidungsbedingungen in ihrem Zusammenspiel beim einzelnen Menschen nachvollziehbar und begreifbar zu veranschaulichen. Die eingängige Formel von den Täter*innen, Opfern und Zuschauer*innen mag es dabei so erscheinen lassen, als betrachte man diese multiperspektivisch von der gleichen Warte aus – dabei funktioniert die Identifikation mit den Akteur*innen völlig anders, ob man nun Mitleid und Empathie für Opfer entwickelt, ob man sich als Danebenstehender fragt, inwiefern man intervenieren soll, oder ob man sich in die einem vielleicht gar nicht mal so ferne Gedankenwelt von Täter*innen hineinversetzt.
Dem Ideal der Ausbildung eines reflexiven Geschichtsbewusstseins entsprechend soll „Personifizierung“ dazu dienen, Lernende in der Auseinandersetzung mit dem vergangenen Handeln Einzelner Leitlinien für ihr eigenes Tun im Jetzt aufzuzeigen. Es geht um die Folgen von Entscheidungen ebenso wie die Zwänge und Spielräume im gegenwärtigen Lebensumfeld. Letztlich sollen sie lernen, Werturteile zu fällen beziehungsweise soll ihre Orientierungskompetenz gefördert werden. Dies geschieht gerade auch, wenn sie sich mit der Bandbreite früheren menschlichen Handelns unter selbst ausweglos scheinenden oder tatsächlich ausweglosen Bedingungen befassen. Stets bleibt aber die Frage, ob die Extremsituationen von Kriegen und Genoziden sich als Referenzgrößen für alltägliche Entscheidungen im Heute eignen.
Diese Hoffnung auf ein besonders intensives, motivierendes und perspektivierendes Lernen geht mit weiteren Bedenken einher, die hier nur gestreift werden können. Vielfach wird etwa gefragt, inwieweit Migration und Globalisierung einseitige nationale Einordnungen in Tätergesellschaften und Opfergesellschaften aufbrechen und damit auch einen anderen Umgang mit Täter*innenrollen erforderlich machen. Mit einer gewissen Ernüchterung wurde zudem mehrfach vermerkt, dass die kollektiven und insbesondere die in den Familien weitergegebenen Narrative resistenter als erhofft gegen pädagogische Interventionen sind. Eine weitere Herausforderung erwächst aus dem affektiven Zugang, der biografisierenden Verfahren innewohnt. Emotionen zu wecken, kann Lernprozesse eröffnen und aufrechterhalten, sie zugleich jedoch ebenso behindern. Ein Reflexion verhinderndes Übermaß an Identifikation droht zwar eher bei der Beschäftigung mit Opfern, ist aber auch bei der Beschäftigung mit Täter*innen einzukalkulieren. Befürchtungen einer Überidentifikation sind selbst bei einer Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Selbstdarstellung nicht unberechtigt, ihnen kann jedoch pädagogisch begegnet werden, wie eine jüngere Studie zeigt (Rechberg 2020).
Sind diese Herausforderungen schon im tagtäglichen Unterricht im formalen Schulsystem gegeben, stellen sie sich noch einmal in ganz eigener Weise beim Besuch einschlägiger nicht-schulischer Lernorte. Gerade bei Gedenkstätten und Dokumentationszentren kommt die Überlegung hinzu, inwieweit an Orten des Gedenkens das Verhältnis von Täter*innen, Opfern und anderen Gruppen einen besonderen Umgang verlangt. Dies gilt ähnlich auch für die Rolle von Kriegsgräberstätten, die in dieser Ausgabe des Magazins eine hervorgehobene Betrachtung erfahren. Hier sind Opfer und Täter nebeneinander bestattet, hier scheinen sie im Tode gleich, selbst wenn sich gegen diesen Topos verschiedene Einwände vorbringen lassen und die Verbrannten der Krematorien eben gerade keine ewige Ruhestätte erhielten. Selbst wenn das Andenken angesichts der Zeitläufte verblasst, trifft an Kriegsgräberstätten der individuelle Wunsch von Familien, ihrer Verstorbenen zu gedenken, auf geschichtspolitisch umstrittene kollektive Erinnerungsformen. Dies gibt dem Lernen an diesen Gedenk- und Erinnerungsorten noch einmal eine Brisanz, die eine besondere Umsicht und Sensibilität auf Seiten der Bildungsmittler*innen erfordert.
Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993.
Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996.
Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 1993.
Sarah Kleinmann, Nationalsozialistische Täterinnen und Täter in Ausstellungen. Eine Analyse in Deutschland und Österreich, Tübingen 2017.
Karl-Hermann Rechberg, Täterschaft in der Gedenkstättenpädagogik. Empirische Rekonstruktion der Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schülern, Wiesbaden 2020.
Bünyamin Werker, Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung. Forschung, Konzepte, Angebote, Münster 2016.