„Das ist die Geschichte meines Vaters, eines Kriegsverbrechers, meiner Mutter, meiner Geschwister, Nichten und Neffen. Eine typisch deutsche Geschichte.“
Hanns Ludin wurde 1941 von Hitler als Gesandter 1. Klasse und bevollmächtigter Minister in den „Schutzstaat“ Slowakei geschickt. Als Spitzenvertreter des Deutschen Reiches sollte Ludin dort die Interessen Berlins durchsetzen. Allen voran bedeutete dies die Umsetzung der „Endlösung“. Ludin war damit an der Deportation der slowakischen Jüdinnen*Juden beteiligt. Nach dem Krieg wurde Hanns Ludin von den US-Amerikanern an die Tschechoslowakei ausgeliefert, wo er 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.
2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß zeigt die Familie eines Nazitäters 60 Jahre nach Kriegsende. Obgleich die Wahrheit über den Vater längst aktenkundig ist, wird sie in der Familie weiterhin beschönigt, geleugnet und verdrängt. Sein jüngster Sohn Malte Ludin, der zum Zeitpunkt der Hinrichtung seines Vaters gerade mal fünf Jahre alt war, nimmt die Biografie des Nazitäters zum Ausgangspunkt seines dokumentarischen Films. Mit seinem Dokumentarfilm will er dessen Geschichte aufarbeiten, sein Wissen über die zwei oder drei Dinge, die er von ihm weiß, erweitern. Er stellt die historischen Fakten den Legenden, die über seinen Vater kursieren, gegenüber und zeigt in der Auseinandersetzung, vor allem mit seinen drei Schwestern, wie konfliktbelastet der Kampf um die Erinnerung in deutschen Familien sein kann. Seine Familie kann als beispielhaft hierfür verstanden werden.
Während sich die Schuld des Vaters für Malte aus den erhaltenen Dokumenten erschließt, klammern sich andere Familienmitglieder an die Hoffnung, dass Hanns Ludin zwar die Umsiedlung der Jüdinnen*Juden organisierte, nicht aber selbst als Handlanger an der Vernichtung beteiligt war, geschweige denn davon gewusst haben soll, dass diese den Tod bedeute. Zum einen soll ihm sein vermeintliches Unwissen über die Prozesse der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie von der vollen Schuld entlasten. Zum anderen deutet sich hier indirekt eine Diskussion über den Begriff der Täterschaft an.
In einem Interview von 1978 erzählt die Mutter Ludins von einer Begegnung mit der Frau des Schweizer Gesandten. Die Frau habe davon berichtet, dass sie ein jüdisches Kind aufgenommen hatten, um dieses vor Auschwitz zu schützen. Ludins Mutter meint nicht zu wissen, was Auschwitz sei. Auch von Vergasungen will sie nie etwas gehört haben. Als sie nach Hause kommt, hat die Familie gerade Besuch aus Berlin. Empört berichtet sie ihrem Mann und seinem Besuch von ihrer Begegnung: „Es ist wirklich sehr dumm, dass ich keine Ahnung habe, wer es war. Es war irgendeiner, der eine Funktion in Berlin hatte. Und der sagte: Auschwitz ist ein Rüstungsbetrieb. Da arbeiten die Juden für Rüstung. Und damit haben mein Mann und ich, wir haben ihm das geglaubt, war erledigt.“ (ab Min. 47:09)
Hierin zeigt sich zweierlei, was für die späteren Legenden, die auch nach dem Tod der Mutter weiterhin in der Familie kursieren, von Bedeutung ist: In der Beschreibung des Besuchers drückt sich eine Autorität aus: „Es war irgendeiner, der eine Funktion in Berlin hatte“. Wie konnten sie also anders, als ihm zu glauben, denn wenn er es nicht wüsste, wer dann? Dass es „wirklich sehr dumm“ sei, sich nicht daran erinnern zu können, wer dieser Mann war, betont einmal mehr den Wunsch nach Entlastung. Auffällig ist außerdem, dass sie nachträglich ihren Mann in ihr Erlebnis miteingebunden hat. Sie und ihr Mann hatten dem Besuch aus Berlin geglaubt. Ihr Mann hatte also auch nichts von Auschwitz gewusst.
Im Interview mit der Mutter deutet sich demnach an, wie die Erinnerungen an den Vater nach seiner Hinrichtung innerhalb der Familie Ludin konstituiert wurden. In ihrer Studie über Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis beschreiben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, dass das menschliche Gedächtnis mit unterschiedlichen Systemen für kognitive und emotionale Erinnerungen operiert. Wenn Familienangehörige der Zeitzeug*innengeneration die eigentliche Familiengeschichte mit einer Selbstverständlichkeit beschönigt wiedergeben, sei es durchaus folgenreich für die Weitergabe des Vergangenen. Die nationalsozialistische Vergangenheit würde demnach anders vermittelt werden als in der Schule oder in den Medien und würde niemals „authentisch“ die Gegenwart erreichen, „sondern stets nur als eine ´erstellte, auswählende und deutende Rekonstruktion ins Bewusstsein treten´“ (Welzer, Moller, Tschuggnall, S. 11-12).
Die Geschichtsschreibung der Mutter, wie sie sich in diesem Interview von 1978 andeutet, erklärt dann auch, wie die Schwestern des Filmemachers reagieren, sobald er sie mit den Akten konfrontiert. So sieht eine Schwester die Möglichkeit, dass ihr Vater ein Mörder war, nur unter einer bestimmten Bedingung gegeben: Nur wenn er tatsächlich davon gewusst haben könnte, dass die Verschickung der Jüdinnen*Juden, für die der Vater zuständig gewesen ist, auch deren sicheren Tod bedeute, habe er sich mitschuldig gemacht. Dass er davon aber nichts gewusst haben konnte, bestätigt nicht nur besagte Erinnerung der Mutter, sondern auch, dass ihr Vater sonst ein Lügner gewesen sein müsste. Die deutsche Tugend der Aufrichtigkeit aber verbiete es, dass ihr Vater gelogen habe. Ähnlich eine andere Schwester, die argumentiert, dass niemand, der wusste, dass die Jüdinnen*Juden umgebracht werden, sie bewusst in den Tod schickt, schreiben würde, dass seine Kinder stolz auf ihren Vater sein können. Alles andere sei „schizophren“, so die Schwester.
Die dritte Schwester wiederum versucht ihren Vater damit zu retten, dass er die Ermordungen nicht selbst ausgeführt habe. Insofern versteht man sich selbst auch nicht als „Täterkind“, sondern eher doch als Kind eines Mannes, der selbst Opfer einer schrecklichen Zeit war. Ihr Vater sei selbst Opfer gewesen, weil er alle Hoffnungen auf Hitler gesetzt hatte und damit selbst getäuscht beziehungsweise missbraucht wurde. Nicht anders argumentierte Hanns Ludin selbst in einem Brief ans Gericht: „Ich kann mich nicht schuldig erklären. Ich habe unter dem Zwang der Verhältnisse gehandelt im Rahmen der mir gegebenen Befehle und Weisungen. Ich habe manchmal geschwankt. Ich habe Irrtümer und Fehler begangen aber kein Verbrechen.“ (ca. ab Min 6:04) An einer anderen Stelle des Films wird der Name des Vaters außerdem damit zu retten versucht, dass er einer Person sogar das Leben gerettet habe.
All das deckt sich erstaunlich gut mit den Ergebnissen der letzten Memo-Studie aus dem Jahr 2020. Nur 23,2 % der Befragten bejahen die Frage, ob ihre Vorfahren während der Zeit des Nationalsozialismus unter den Tätern waren. Etwa dreimal so viele, 67,9 %, verneinen sie. 35,8 % meinen, dass ihre Vorfahren Opfer des Nationalsozialismus gewesen seien. Diese Frage wird von 59,6 % verneint. Ob die Vorfahren potenziellen Opfern geholfen haben, bejahen 32,3 % und verneinen 42,1 %. Vor allem der Begriff des Opfers ist hier ungenau. So erklärt Aleksandra Janowska von der EVZ-Stiftung, welche die Studie gefördert hat, dass die Befragten unter dem Begriff des „Opfers“ auch Opfer der Bombenangriffe, Vertriebene, Soldaten und dergleichen verstehen und eben nicht nur die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Memo-Studie, S. 15-17). In Anbetracht des Ausmaßes der deutschen Verbrechen sollte klar sein, dass diese Zahlen einem beschönigten Familiengedächtnis entstammen – oder wie der Filmemacher zu Beginn seines Filmes sagt: „Eine typisch deutsche Geschichte.“ Es verhält sich mit Deutschland so, wie es Jean Améry in seinem Text Ressentiments festgestellt hat: „Wie sich seit langem erwiesen hat, will sein glückliches Volk nichts wissen von nationalen Demagogen und Agitatoren“ (Améry, S. 103).
Die Reaktionen der Familienmitglieder erinnern auf gewisse Weise an Hannah Arendts Etikettierung Adolf Eichmanns als bürokratischen Schreibtischtäter, als „erschreckend“ normal (Arendt, S.400). Arendt entgeht dabei die Einsicht in die sadistische Natur Eichmanns, der trotz seiner Autoritätshörigkeit ein überzeugter Nazi und vernichtungsbereiter Antisemit gewesen ist (vgl. Pohl, S.23). Was Hannah Arendt entgeht, wird von den Schwestern des Filmemachers beschönigt oder geleugnet.
Ludin gelingt es eine ganze „Täterfamilie“ – über drei Generationen hinweg zur gemeinsamen Aufarbeitung ihrer Geschichte zu bewegen. Er versucht damit eine Lücke in deren bisheriger Geschichtsdarstellung zu füllen und zeigt gerade durch die konflikthaften Auseinandersetzungen mit seinen Schwestern ein weiterhin aktuelles Bild von der Erinnerungskultur in dieser Gesellschaft.
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist ein Seminar, das halbjährlich in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme angeboten wird. Im Seminar Ein Täter/eine Täterin in der Familie? Gesprächsseminar zu Familiengeschichte und Familiengeschichten soll darüber gesprochen werden, was es heißt, einen NS-Täter oder -Täterin in der eigenen Familie zu haben. Das Seminar richtet sich an Personen, die sich intensiver mit Täterinnen und Täter in der eigenen Familie auseinandersetzen wollen.
Améry, Jean: Ressentiments. In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977. Hier S. 102-129.
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1999.
Pohl, Rolf: Ganz normale Massenmörder? Zum Normalitätsbegriff in der neueren NS-Täterforschung. In: Brunner, Markus; Lohn, Jan; Pohl, Rolf und Winter, Sebastian (Hg.): Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen. Gießen 2011. Hier S. 19-56.
Stiftung „Erinnerung Verantwortung Zukunft“, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Memo. Multidimensionaler Erinnerungsmonitor. Studie III/2020. Online unter: https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf. Zuletzt aufgerufen am: 07.01.2022.
Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2015.