Im Jahr 2009 hat sich die Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie an der Leibniz Universität Hannover gegründet. Ihr Anliegen liegt darin ein „Gegengewicht zur zunehmenden Zerschlagung der universitären Verankerung einer sich zugleich gesellschafts- und subjekttheoretisch begreifenden Sozialpsychologie“ (S. 12) darzustellen. Der vorliegende Sammelband, dessen Beiträge allesamt von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft stammen, zeigt die Notwendigkeit einer sozialpsychologischen Perspektive, um den Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen erfassen zu können.
Der Antisemitismus ist nicht bloß ein Vorurteil, das mit kognitionspsychologischen Ansätzen der Einstellungsforschung erklärt werden kann. Um ihn greifen zu können, benötigt es eine politische Psychologie, die es schafft, die Irrationalität des Antisemitismus durch den Versuch einer Vermittlung von individuellem und gesellschaftlichem Unbewussten zu verstehen. Gelingen kann dies nur mit psychoanalytischen Begriffen. In der Einleitung machen die Herausgeber deutlich, dass die politische Psychologie verschiedene Disziplinen verbindet. Während die Geschichtswissenschaft die psychologischen Seiten sozialer und politischer Prozesse nur selten in den Blick nimmt, ist die Psychologie oft dazu geneigt ihre Gegenstände von historischen Bezügen zu isolieren. Die politische Psychologie, wie sie hier dargestellt wird, will versuchen, diese Disziplinen miteinander zu denken – wissend, dass eine bruchlose Integration jedoch nicht möglich ist.
So legt beispielsweise Rolf Pohl in seinem Aufsatz Ganz normale Mörder? Zum Normalitätsbegriff in der neuen NS-Täterforschung einen kritischen Blick auf die Täterforschung. Er kritisiert den häufig inflationär verwendeten Begriff der „Normalität“, warnt gleichzeitig jedoch vor der verkürzten Verwendung seines begrifflichen Gegenparts der „Pathologie“. Pathologische „Einsprengsel“ (S. 21), so Pohl, gehören mit zur Grundausstattung jeder durchschnittlichen Persönlichkeit. Vor allem mit Sigmund Freud und Melanie Klein erklärt er, warum Pathologie und Normalität nicht voneinander zu trennen sind. Um einen eigenen Ansatz zum Verhältnis beider zueinander vorzustellen, verknüpft er die massenpsychologische Wirkung der staatstragenden Ideologie mit einer kritischen Analyse der Herrschaftsstrukturen im Nationalsozialismus.
Isabelle Hannemann greift in ihrem Artikel Täterinnenschaft und weibliche Grausamkeitsmotivation. Raum, Körper und Wahrnehmung den Begriff der „Normalität“ und damit die Kritik an der neueren Täterforschung auf und überträgt dies auf die Beschäftigung mit der Rolle der Frau als Täterin im Nationalsozialismus. Ähnlich der Arbeit von Ljiljana Radonic, die in Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus die These der Frau als friedfertiges Geschlecht, wie es Margarete Mitscherlich beteuerte, in Frage stellt, wirft Hannemann einen kritischen Blick auf die bisherige Beschäftigung mit den NS-Täterinnen. Sie zeichnet die feministische Debatte über die Rolle der Frau im Nationalsozialismus nach und fragt, warum deutsche Frauen zunächst als Unschuldige, gar als Opfer patriarchaler Umstände oder lediglich als Mittäterinnen betrachtet wurden, obwohl bereits im Bergen-Belsen-Prozess 1945 Frauen als Täterinnen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Weiter begründet sie, dass die Täterinnen-Forschung Geschlechterdifferenzen, Geschlechterähnlichkeiten und Machtbeziehungen berücksichtigen muss. Ähnlich wie Pohl legt sie dar, dass eine Diskussion über NS-Täterinnen gerade herausarbeiten muss, inwiefern sadistische Gewalt der „Normalweiblichkeit“ (S. 82) eben entspricht.
In einem weiteren Aufsatz stellt Markus Brunner die These auf, die ehemaligen „VolksgenossInnen“ hätten nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ die Idee der „Volksgemeinschaft“ und die mit ihr verbundenen Wünsche nach Größe und Macht in einer psychischen Gruft vergraben, von wo aus sie auf eine erneute Realisierung drängen. Dabei bezieht er sich vor allem auf Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich. Er versucht zu zeigen, warum, entgegen der Kritik die Mitscherlichs hätten die traumatheoretischen Folgen des Krieges für die Deutschen nicht berücksichtigt, ihre Hauptthese, dass die Deutschen nach der Kriegsniederlage durch große psychische Abwehrleistungen einer drohenden Melancholie entgegengewirkt hätten, ein hohes Erklärungspotential für die Erfassung der bundesrepublikanischen Gefühlslage hat. Diese erweitert er durch das psychoanalytische Konzept der „Krypta“ von Nicholas Abraham und Maria Torok.
Des Weiteren setzt sich Sascha Howind mit der Bedeutung der „Volksgemeinschaft“ für die Stabilität der NS-Herrschaft auseinander. Sebastian Winter untersucht das antisemitische Feindbild unter kritischer Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses. Die letzten beiden Aufsätze befassen sich vor allem mit den Konsequenzen für die Gegenwart. Jan Lohn beschäftigt sich mit den intergenerationellen Nachwirkungen des Nationalsozialismus und Wolfram Stender zeigt, wie sich das antisemitische Ressentiment nach 1945 äußert.
Die Texte erinnern insgesamt an das Antisemitismus-Symposium 1944 in San Francisco, dessen Beiträge später in einem Sammelband veröffentlicht wurden. Dieser war das erste bedeutende Dokument der Zusammenarbeit von PsychoanalytikerInnen wie Ernst Simmel und Else Frenkel-Brunswik und Gesellschaftstheoretikern wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bei der Deutung des Antisemitismus. Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus liest sich wie eine Wiederholung dessen, die zusätzlich ins Detail geht und um Fragen des Fortlebens ergänzt, die damals so noch nicht hatten beantwortet werden können.