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„Wer den Swing im Blut hat, kann nicht im Gleichschritt marschieren“, Jazz-Legende Coco Schuhmann, ehem. Mitglied "Ghetto-Swingers", Theresienstadt 1943
„Wir mussten ja alle in der Hitler-Jugend mitmachen“ – so oder ähnlich verteidigten sich nach dem 2. Weltkrieg Eltern und Großeltern gegenüber ihren Kindern und Enkeln. Alle? Fünf bis zehn Prozent der 10- bis 18-jährigen Jungen und Mädchen lehnten die Deutschtümelei, den Hass auf Jüdinnen*Juden und die Erziehung zum Krieg ab. Zu ihnen gehörte die Swing-Jugend in Hannover. Sie nannte sich „Schniegels“ wegen ihrer geschniegelten Kleidung und Frisuren. Die Schniegels liebten die Swingmusik, den freien westlichen Lebensstil und hassten den Dienst in der Hitler-Jugend. Viele wurden von den Nazis verfolgt und bestraft.
Walter Kwiecinski war gerade 12 Jahre alt, als er einen der letzten amerikanischen Filme in Nazi-Deutschland 1939 im Palasttheater in Hannover sehen durfte: den Streifen Broadway-Melodie. Der nie zuvor gehörte „beschwingte“ Rhythmus im 4/4 Takt ging in die Beine. Für Walter und viele andere hob sich der Swing aus Amerika wohltuend ab von den als spießig und altmodisch empfundenen Walzer- und Polkaklängen, die tagtäglich aus dem Volksempfänger in der elterlichen Wohnung waberten.
Den herrschenden Nationalsozialisten gefiel das gar nicht. Sie erklärten den Swing als „entartet“ und verboten kurzerhand ab 1935 den Swing im Radio. In den Augen der selbst ernannten arischen „Herrenrasse“ galt der Swing als undeutsch (afroamerikanisch), rassistisch (gespielt von „Schwarzen“ und „Juden“), undiszipliniert (Improvisationen, die von der ursprünglichen Melodie abwichen) und unsittlich (freier, als „obszön“ abgewerteter Tanz).
Zehntausende Jugendliche im Deutschland der dreißiger Jahre kümmerten sich nicht darum. Sie waren längst auf Swing und Blues „abgefahren“.
Auch wenn die Lieblings-Hits im Radio nicht gesendet wurden – Stars wie Louis Armstrong, Duke Ellington oder Tommy Dorsey konnte man weiterhin von Schellack-Schallplatten auf dem Grammophon hören. Schallplatte und Grammophon waren beides bahnbrechende Erfindungen des Hannoveraners Emil Berliner in den USA 1896 („His masters voice“).
Walter Kwiecinski und Gleichaltrige durchwühlten regelmäßig die Plattenbestände vor allem der amerikanischen Marke Brunswick in Radiogeschäften wie z. B. Oberpottkamp im Drachentöterhaus in der Georgstraße. Man war begeistert, wenn eine seltene Aufnahme zum Beispiel von Gene Krupa gefunden wurde und erwarb sie zu einem Preis von zwei Reichsmark, was das monatliche Taschengeldniveau komplett sprengte. (Der durchschnittliche Wochenlohn eines*einer Arbeiter*in lag bei ca. 30 Reichsmark!). Ab 1939 verschwanden die englischen Platten aus den Läden, nicht aber die amerikanischen Scheiben mit Louis Armstrong oder Duke Ellington. Die gab es erst dann nicht mehr, als Adolf Hitler 1941 den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärte.
Das mechanische Koffergrammophon mit aufziehbarem Federwerk – Hotkoffer genannt – erlaubte es den Swingkids, ihre „Hot-Musik“ bei Zusammentreffen im Freien zu hören und dazu zu tanzen („hotten“): in Schutzhütten im Stadtwald Eilenriede oder im Georgengarten, in Hinterhöfen des Arbeiter*innenviertels Linden oder im neuen schicken Maschsee-Strandbad. Hier lief man allerdings Gefahr, einer Hitlerjugend-Streife zu begegnen. Während der zwangsläufig folgenden Raufereien mit den Hitler-Jungen gingen häufig kostbare Platten kaputt, die ab 1941 kriegsbedingt nicht mehr nachgekauft werden konnten. Das teure Koffer-Grammophon (kostete mehr als den Wochenlohn eines*einer Arbeiter*in wurde beschlagnahmt und erst Tage später nach einer Benachrichtigung an die Eltern wieder herausgeben. Denn die Führung der Hitler-Jugend, die Polizei und die SS sahen die Jungen und Mädchen der Swing-Jugend als Drückeberger*innen und Bummelant*innen und damit als Gefahr für die Disziplin in der Hitlerjugend.
Walter Kwiecinski ließ sich nicht abschrecken: Zusammen mit sechs Gleichaltrigen gründete der sechzehnjährige 1943 eine der ersten Swing-Bands in Hannover: die „Super-Swing-Seven“. Gitarre und ein improvisiertes Schlagzeug dienten als Musikinstrumente. Walter und seine Band übten lautstark im Garten der Drostestraße 6, bis der Blockwart erschien und mit einer Anzeige drohte. Das hinderte Walter nicht, wenig später den Deutschen Swing-Club zu gründen, der gegen Kriegsende über 200 Schellackplatten verfügte.
Die Schniegels nannten sich so, weil sie Anfang der 40er Jahre in „geschniegelter“ Kleidung durch die Innenstadt stolzierten, wie der damals 15-jährige Günter Bode später in einem Zeitzeugen-Interview berichtete. Zum Beispiel „im Takt eines Swing-Songs hintereinander den Rinnstein an der Karmarschstraße entlang – ein Bein auf der Straße, ein Bein auf dem Bürgersteig…“
Mädchen trugen statt der züchtigen Zöpfe der Mitglieder des Bundes Deutscher Mädel lange Haare und statt Röcken und Wanderschuhen Hosen und Schuhe mit Absätzen. Sie schminkten sich und lackierten die Fingernägel – absolut verboten im BDM! Jungen trugen statt des üblichen militärisch kurzen „Topf-Haarschnitts“ der Hitlerjugend langes, pomadisiertes Haar, hellen Sommermantel, englische Jacketts mit Nadelstreifen und auf jeden Fall Hut und Seidenschal.
Und man grüßte sich mit „Swing Heil“, „Heil Hotler“ oder „Trotz HJ: Wir tanzen hot!“
Ständig suchten die Schniegels in der Zeitung nach Anzeigen von internationalen Swingorchestern, die in Hannover während des Krieges im GOP oder im Café Conti (heute Peek & Cloppenburg) oder im Wiener Café (heute Hennes & Mauritz) auftraten, wie z. B. die Schweizer Teddy Stauffer oder die holländische Band von John Kristel. Obwohl es auch in Tanzlokalen hieß: „Swing tanzen verboten“, hielt man sich nicht daran und hörte unbekümmert den gut tanzbaren Swing. Vor allem die holländische Kapelle von John Kristel erregte offenes Missfallen: Bei bestimmten Swing-Songs – insbesondere „Tiger rag“ (= Tigerjagd) – stiegen die Musiker auf die Stühle und „ergehen sich in unglaublichen Verrenkungen – bedauerlicherweise findet die Kapelle insbesondere bei Jugendlichen großen Anklang“, meldete der Polizeibericht. Für die Schniegels um Günther Bode galt es, sooft es ging, dabei zu sein und den geliebten Swing live vor der Tür zu hören – eintreten durfte man nach 22.00 Uhr erst mit 18 Jahren. Kam eine Streife des Sicherheitsdienstes der SS, spielten die Bands Tango oder Polka, bis die Streife gegangen war.
Obwohl es verhältnismäßig wenige waren: Die „Swing-Heinis“ – wie sie verachtungsvoll genannt wurden – waren den Nazis ein Dorn im Auge. Ihnen missfielen Kleidung, Haarschnitt und die unmilitärische lockere Haltung. Und weil sich die Swingkids nicht fügten, wurden sie automatisch zu Gegner*innen des autoritären Regimes erklärt.
Der hannoversche Gauleiter Hartmann Lauterbacher ließ durchgreifen. Am 9. Mai 1943 wurden bei Razzien von Polizei, SS und Hitler-Jugendführer in der Eilenriede, im Georgengarten und im Stadtzentrum über 800 sogenannte „Swing-Heinis“ verhaftet und zur Bestrafung sonntags zum Bau von Löschteichen und zum Kartoffelschälen für Wehrmachtsangehörige gezwungen.
Andere jugendliche Oppositionsgruppen wehrten sich aktiver gegen den Zwang in der vormilitärischen Hitlerjugend. Sie überfielen gelegentlich Hitlerjungen, verprügelten sie und raubten ihnen Abzeichen, Mützen oder Halstücher. In Leinhausen wurde z.B. eine marschierende HJ-Gefolgschaft gegen 22.00 Uhr mit Ziegelsteinen überschüttet. Acht Jungen kamen ins Krankenhaus Nordstadt. In der Fannystraße in Linden wurde der Dienstwagen des HJ-Bannes mit Steinen beworfen und ein Führer lebensgefährlich verletzt. Diese Jugendlichen nannten sich Heros, Eintracht oder Al Capone.
Der Führer der Al Capone-Bande, der damals 19-jährige Karl-Heinz Flasbarth, wurde vom berüchtigten hannoverschen Sonderrichter Dr. Schmedes am 18. Dezember 1942 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.
Der Führer der SS Heinrich Himmler forderte im Januar 1942: „Alle Rädelsführer […] sind in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dort muss die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen und dann in schärfster Form exerziert und zur Arbeit angehalten werden. Der Aufenthalt im Konzentrationslager für diese Jugend muss ein längerer, 2-3 Jahre sein.“ Unterstützende Eltern und Lehrer sollten ebenfalls verhaftet werden.
Darüber hinaus liefen „unverbesserliche“ Swingkids Gefahr, wochenlang im Untersuchungsgefängnis zu sitzen und unter Schlägen der Gestapo zu Geständnissen gezwungen zu werden. Jungen konnten in das Jugend-KZ Moringen bei Northeim (das war 1933 das erste hannoversche KZ) und Mädchen in das KZ Uckermark (nahe am Frauen-KZ Ravensbrück) eingeliefert werden und dort das Leben verlieren. Diese Bedrohung und die Kriegsereignisse führten zwangsläufig zur Auflösung der oppositionellen Swing-Jugend.
16- und 17-jährige Jungen wurden als Luftwaffenhelfer, später zum Arbeitsdienst und zur Wehrmacht eingezogen. Das Pflichtjahr auf dem Lande, der Einsatz in Krankenhäusern und als „Blitzmädchen“ bei der Luftwaffe ließen jungen Mädchen am Ende des Krieges keinen Raum für individuelle Abweichungen über Haarschnitt, Kleidung und Begeisterung für den Swing.
Wer den Swing im Blut hat, kann nicht im Gleichschritt marschieren – mit Wegfall der militärischen Ausrichtung der Jugend nach Kriegsende flammte die Liebe zum Swing umso stärker wieder auf. Aus dem Deutschen Swing-Clubentstand 1946 der von Walter Kwiecinski mit begründete Hot Club Hannover. Er zählte zu den ersten offiziellen Nachkriegs-Vereinigungen von Jazzfans und holte in den 1950er Jahren die Creme der Jazzmusik in die Niedersachsenhalle: Louis Armstrong, Benny Goodman, Duke Ellington. 1966 wurde der Jazz-Club Hannover auf dem Lindener Berg gegründet – ironischerweise in einem der ersten Hitler-Jugendheime Hannovers. Hannover – die Stadt des Erfinders und Produzenten von Schallplatte und Grammophon, Emil Berliner – entwickelte sich zu einer bedeutenden Jazz-Metropole in Deutschland.Die oppositionelle Swing-Jugend hatte dazu den Grundstein gelegt.
Mehr Infos: www.NS-Zeit-Hannover.de
Kurz-Video „Swing-Jugend in Hannover“: YouTube NS-Zeit-Hannover, https://www.youtube.com/watch?v=eCvVNbTsAKk
Stadtarchiv Hannover: Michael Bayartz: Interview mit Günther Bode 14.3.1989.
Historisches Museum Hannover: Michael Bayartz: Vortrag „Die Situation Jugendlicher in Hannover im Dritten Reich“ mit Berücksichtigung der Jugendopposition, 13. Juni 1990 und 2. März 1992
Aufzeichnungen: Günther Bode „In the mood“, rs-Walsrode, 2000. Zeitschrift Schädelspalter, 3/89. Buch „Ein Club macht Jazz“, 1991“, Buch „Swing Heil“, 1997. Ausstellungsbegleitheft „Jugendliche in Hannover“, 1997. Buch Klönne: „Jugendliche im Dritten Reich“, 1999.