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Das Projekt Geschichte im Dialog wurde in mehreren Arbeitsphasen von 2015 bis 2020 durchgeführt. Die institutionell beteiligten Projektpartner waren die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, das Max-Mannheimer-Studienzentrum in Dachau sowie das Center for Humanistic Education am Ghetto Fighters' House Museum in Lohamei Haghetaot in Israel. Weiter beteiligt waren in der Vermittlungsarbeit dieser NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte freiberuflich Tätige sowie Fachkräfte von verschiedenen Organisationen und aus verschiedenen Disziplinen. Gefördert wurde das Projekt von der Bundeszentrale für politische Bildung. Im Kern haben etwa 15 Personen das Projekt über weite Strecken seiner Laufzeit begleitet. Sie kommentierten im Rückblick, die Teilnahme an Geschichte im Dialog als großes Privileg empfunden zu haben. Das Projekt habe ihre Sicht auf die Vermittlungstätigkeit an NS-Gedenkstätten nachhaltig bereichert. Auch waren sie der Meinung, dass sich die Erfahrungen aus dem Projekt positiv auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ausgewirkt hätten. Doch worum ging es in diesem Projekt und was war das Besondere daran?
Das Projekt kann mit einigem Recht als „work in progress“ bezeichnet werden. Die erste Projektphase fokussierte einen Fachkräfteaustausch. Mitarbeitende in der Bildungsarbeit der beteiligten Institutionen besuchten sich gegenseitig und stellten sich die verschiedenen Formate ihrer Bildungsangebote vor: Rundgangskonzepte, ein- oder mehrtägige Workshops zu Themen wie zum Beispiel Alltag im Konzentrationslager oder Jugend im Nationalsozialismus, Module zu Biografien ehemaliger KZ-Häftlinge, Vor- und Nachbereitungsmethoden von Gedenkstättenbesuchen und mehr. Dabei wurde ersichtlich, dass aus dem angenommenen „Das machen wir genauso oder so ähnlich“ bei näherer Betrachtung große Unterschiede in der Herangehensweise zu Tage traten. Dies führte zur Analyse von Details, des Ergründens und Erklärens, warum was wie getan wird und der Erkenntnis von Widersprüchen, Ambivalenzen und auch Konflikten. Alle Beteiligten waren gezwungen, ihre „Komfort-Zone“ zu verlassen und Stellung zu beziehen. Zum Vorschein kamen neben einer ganzen Reihe von Best-Practice-Beispielen auch unhinterfragte Praktiken, Pragmatismus, vermeintliche Zwänge, Unsicherheiten und sogar Zweifel an Sinn und Zweck der Vermittlungstätigkeit an sich sowie persönliche und interkulturell bedingte Differenzen. Um dies gemeinsam auszuhandeln, bedurfte es der Gewissheit eines geschützten Raums, Zeit für Diskussionen und gegenseitiges Vertrauen – eine der Besonderheiten des Projekts.
Das Ergebnis dieser ersten Projektphase war der Wunsch, Trennendes zu überwinden und auf Basis des bereits ausgehandelten Konsenses gemeinsam neue Methoden für die Vermittlungsarbeit zu entwickeln. Diese sollten einerseits die Diversität in einer Gruppe berücksichtigen und andererseits Partizipation ermöglichen. Auch in der darauf folgenden zweiten Projektphase stand das Experimentelle im Mittelpunkt und es begann ein Prozess des Ausprobierens, Diskutierens und Herantastens. An dessen Ende war deutlich, dass es einen sehr spezifischen gemeinsamen Nenner braucht als Basis für die konkrete Weiterarbeit. Dieser Nenner waren einzelne Stationen in Rundgängen an den KZ-Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg. Sie sollten als Erprobungsgegenstand geradezu mikroskopisch genau untersucht werden im Hinblick auf das, was sich in der Vermittlungssituation einer Station zwischen Vermittler*in, Teilnehmenden einer Gruppe und dem Thema als Vermittlungsgegenstand abspielt. Dazu war es notwendig, die Projektgruppe für die nächste, die dritte Phase zu erweitern und Vermittler*innen der KZ-Gedenkstätten Dachau und Flossenbürg mit einzubeziehen, die über eine breite Praxis an Erfahrungen mit unterschiedlichen Zielgruppen verfügten.
Die Projektgruppe teilte sich nun auf in die Steuerungsgruppe, die aus jeweils zwei Vertreter*innen pro beteiligter Institution sowie einem externen Koordinator bestand, und die Vermittler*innengruppe. Die weitere Arbeitsweise kann als "spiralförmig" beschrieben werden: Die Steuerungsgruppe entwickelte jeweils das Programm für eine zwei- oder dreitägige Arbeitssitzung für die gesamte Projektgruppe, das sich detailgenau mit der Analyse der Erstellung und Durchführung einer Rundgangsstation befasste: Welches konkrete Thema behandelt eine Rundgangsstation wie etwa die Verortung des Lagers in seiner geografischen Umgebung, das Sprechen über Täterschaft, Terror und Gewalt, die Zustände in den Baracken etc.? Welche Situationen werden dabei aus Sicht der Vermittlerin*des Vermittlers als herausfordernd, welche als erfolgreich wahrgenommen? Wann und wie findet Kommunikation zwischen Vermittler*in und Gruppe statt? Welche Qualität hat die Kommunikation, was sind zum Beispiel "gute" Fragen der Vermittler*des Vermittlers an die Gruppe? Aus welchen einzelnen Elementen besteht eine Station, wie ist sie methodisch-didaktisch aufgebaut, was dient als Anschauungsmaterial wie etwa Zitate von Häftlingen oder Propaganda-Fotografien? Und an welchen Stellschrauben gibt es Möglichkeiten für Veränderungen, die sich positiv auf die Dynamik auswirken? Nach der Methode „Trial and Error“ wurden „alte“ Stationen neu erarbeitet, Materialien recherchiert, Dynamiken entschlüsselt und reflektiert. Steuerungs- und Vermittler*innengruppe bewegten sich oszillierend hin und her, Programme wurden an Zwischenergebnisse angepasst und nachjustiert, sodass bisweilen dieselben Themen wieder und wieder diskutiert wurden, aber immer aus einer anderen Perspektive, mit neuem Erkenntnisgewinn.
Im Verlauf der vierten und letzten Projektphase zeichnete sich ein Paradigmenwechsel ab: Der*Die allwissende Vermittler*in, der*die als Expert*in das Narrativ des Ortes vermittelt und die Gruppe der Teilnehmenden dabei überwiegend – gewollt oder nicht gewollt – zu passiven Empfänger*innen macht, wurde abgelöst. An ihre*seine Stelle trat ein Verständigungsprozess. Historische Ereignisse und ihre Bedeutung für die Gegenwart wurden gemeinsam gedeutet und interpretiert. Wirklicher – und nicht nur scheinbarer – Dialog konnte stattfinden, der alle an diesem Prozess Teilnehmenden gleichermaßen aktivierte und am Lernprozess über Nationalsozialismus und Holocaust beteiligte. Doch nicht nur für die Teilnehmenden am Vermittlungsprozess hatte dieser Paradigmenwechsel spürbare Folgen, sondern vor allem auch für die Vermittler*innen selbst. Für sie bildete sich der nunmehr veränderte Gestaltungsprozess nicht nur methodisch ab, sondern er ging weit darüber hinaus, er führte zu einer neuen Haltung in der eigenen Arbeitspraxis. Diese Erkenntnis war für die Projektgruppe gleichermaßen überraschend und besonders. Die Autonomie der Vermittlerin*des Vermittlers wurde bis dahin getragen von historischer Expertise und Deutungshoheit.
Im Dialog mit der Gruppe wurde sie nun durch etwas Neues, Unbekanntes ersetzt. Viel stärker als zuvor standen nun die Besucher*innen bzw. die am Vermittlungsprozess Teilnehmenden einer Gruppe mit ihren Beobachtungen, Einschätzungen und Bedürfnissen im Mittelpunkt. Die Aufgabe der Vermittlerin*des Vermittlers bestand jetzt in der Aufforderung an die Gruppe, sich aktiv in den Austausch einzubringen und eigene Wahrnehmungen zu äußern. Diese muss er*sie ernst nehmen und moderieren. Die dabei entstehende Dynamik trägt die Befürchtung in sich, dass es möglicherweise auch zu problematischen Äußerungen kommen kann. Trotzdem sind die Projektbeteiligten optimistisch: Die durch Geschichte im Dialog gewonnene Haltung habe sie in ihrer Souveränität bestärkt. Ein Moment von Gelassenheit sei entstanden, nicht immer perfekt sein zu müssen, nicht immer sofort die absolut richtige Antwort parat haben zu müssen, auch eigene Unsicherheiten zulassen zu dürfen. Dafür sei ein offener Kommunikationsraum entstanden, der spannend ist, neue Erkenntnisse bringt und als Modell für ein inklusives, demokratisches Miteinander steht.
Während der Projektlaufzeit waren die Beteiligten mehrfach aufgefordert, Außenstehenden über das Projekt zu berichten. Dies wurde zwar in Veranstaltungen und Präsentationen eingelöst, dabei zeigte sich jedoch auch die Schwierigkeit, ein solch komplexes, prozessorientiertes Projekt, das außerdem eine ungewöhnlich lange Laufzeit hatte, in Kürze gebührend zusammenzufassen. Andererseits waren die Erfahrungen der Projektbeteiligten so nachhaltig, dass in jeder Projektphase der Wunsch nach Fortsetzung zentral war. Geschichte im Dialog ist vielfältig anschlussfähig. Zum einen knüpft es an andere Projekte an, die sich der Selbstreflexion gedenkstättenpädagogischer Vermittlungsarbeit verschrieben haben, wie etwa das Fortbildungsprojekt „Verunsichernde Orte“ (2010) oder die Beiträge des Sammelbandes „Gedenkstättenpädagogik“ (2015). Auch bestehen diverse formelle und informelle Gruppen zur Reflexion gedenkstättenpädagogischer Praktiken, die von den im Projekt erprobten Modulen profitieren können. Zum anderen beinhaltet das Projekt großes Potential für die Weiterentwicklung über den Mikrogegenstand „Rundgänge an KZ-Gedenkstätten“ hinaus als methodisches Element und Zugang für eine breite und vielfältige Praxis in der historisch-politischen Bildungsarbeit.
Aktuell wird über Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Weitergabe der Projektergebnisse nachgedacht. Die Frage nach dem was und wie ist dabei zwar noch nicht abschließend entschieden, doch der Wunsch nach einer Fortsetzung bleibt wie bei den bisherigen Projektphasen weiterhin bestehen.
Der Entstehungsprozess des Projekts, seine Ergebnisse, die im Projekt angewandten Methoden und erprobten Module wurden in der Broschüre Geschichte im Dialog. Eine partizipative Fortbildung an NS-Gedenkstätten publiziert. Diese kann kostenfrei über die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg bezogen werden.
Broschüre Geschichte im Dialog. Eine partizipative Fortbildung an NS-Gedenkstätten, hrsg. von KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Max Mannheimer Studienzentrum Dachau, Center for Humanistic Education, Beit Lohamei Haghetaot, November 2020.
Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Hrsg. von Elke Gryglewski u.a., Berlin 2015.
Verunsichernde Orte: Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik. Hrsg. von Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich. Frankfurt, 2010.